Ritual - Höhle des Schreckens
amoralischer Mensch, der aus der Gesellschaft ausgeschlossen war.«
Winifred saß mit tief gesenktem Kopf stumm da. Corrie empfand Mitleid mit ihr. Sie erinnerte sich an die Geschichten, die in Medicine Creek über den Vater der alten Lady kursierten: dass er sie für den kleinsten Fehler geschlagen und tagelang auf den Dachboden verbannt hatte, weil er sich in seiner Verbohrtheit einbildete, sein Wort sei unverrückbares Gesetz. Es gab in Medicine Creek allerdings auch Leute, die Zweifel an diesen Geschichten hegten. »Sie ist doch eine so liebenswürdige alte Lady«, wandten diese Leute ein. »Das hätte sie nie und nimmer werden können, wenn an all den bösen Geschichten über ihren Vater auch nur ein Körnchen Wahrheit steckte.«
Pendergast ging mit großen Schritten auf und ab, musterte die alte Lady hin und wieder verstohlen und sagte schließlich wie in einem versonnenen Selbstgespräch: »Es gibt einige Beispiele dafür, dass Kinder tatsächlich unter ähnlichen Umständen aufgewachsen sind. Das Wolfskind von Aveyron zum Beispiel oder den Aufsehen erregenden Fall einer gewissen Jane D., die von ihrer schizophrenen Mutter während der ersten vierzehn Lebensjahre im Keller eingeschlossen wurde. In solchen Fällen hat es sich herausgestellt, dass der Liebesentzug in früher Kindheit zu irreparablen neurologischen und psychologischen Defiziten führt, mit der Folge, dass später weder eine Sozialisierung noch eine sprachliche Entwicklung nachgeholt werden können. In Jobs Fall dürfte der Schaden erheblich größer sein, denn ihm wurde die ganze Welt vorenthalten.«
Winifred schlug die Hände vors Gesicht, wiegte sich vor und zurück und stammelte unter Tränen ein ums andere Mal: »Oh, mein armer kleiner Jobie, mein armes, armes Kind!«
Plötzlich schreckten alle hoch: In der Ferne heulte die Sirene eines Rettungswagens. Das Heulen kam rasch näher, und schließlich signalisierte flackerndes Streulicht, dass Hilfe eintraf.
Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, bis sie draußen Wagentüren schlagen und kurz darauf schwere Schritte auf der Veranda hörten. »Hallo, Leute!«, rief eine sonore, betont herzlich klingende Stimme von draußen. »Hat lange gedauert, aber jetzt sind die Straßen endlich wieder frei. Ich hoffe, hier ist alles in Ordnung?«
»Nein«, rief Pendergast in ruhigem Ton zurück, »hier ist keineswegs alles in Ordnung.«
Epilog
Die untergehende Sonne malte einen goldenen Schimmer über Medicine Creek, als wolle sie dem Ort den Abendsegen spenden. Der Sturm hatte der Hitzewelle ein Ende gemacht, der Himmel sah wie frisch gewaschen aus, eine Vorahnung vom Herbst lag in der Luft. Soweit die Maisfelder den Tornado überlebt hatten, waren sie inzwischen abgeerntet worden. Wanderkrähen kreisten zu Hunderten über der Stadt, bis sie sich zu guter Letzt in den Stoppelfeldern niederließen, um die letzten süßen Körner aufzupicken. Das Leben nahm fast wieder seinen gewohnten Gang, die Sorgen und Ängste der jüngsten Vergangenheit waren beinahe vergessen.
Corrie lag in ihrem zerknautschten Bett und versuchte, endlich den Roman Ice Ship zu Ende zu lesen. Über dem Wohnwagen lag friedliche Stille. Sie hatte das Fenster geöffnet, um die frische Brise ins Zimmer zu lassen. Am Himmel zogen Puffwölkchen ihre Bahn. Am Stadtrand ragte der schlanke weiße Turm der Lutheranerkirche auf, durch die weit offenen Kirchentüren drang Orgelspiel zu ihr herüber. Dann stimmte die Gemeinde ein Lied an, in dem der Herr gepriesen wurde, der aller Menschen Hort und Hirte ist. Klick Rasmussens schriller Sopran übertönte wie gewöhnlich alle anderen Stimmen.
Ein Lächeln stahl sich auf Corries Lippen. Die Abendvesper war der erste Gottesdienst, den Pastor Tredwell abhielt, der neue Geistliche, der die Herzen der Gemeinde im Sturm erobert hatte. Corrie erinnerte sich schmunzelnd an die Geschichte, die ihr jemand erzählt hatte, als sie noch im Krankenhaus lag. Es ging um Smit Ludwig, in der Stadt wurden sie nicht müde, einander zu erzählen, wie der Herausgeber des Cry County Courier barfuß und übel zugerichtet aus den Maisfeldern gewankt kam. Fast zwei Tage lang hatte er dort bewusstlos und mit einer Gehirnerschütterung gelegen, und nun – das war die Pointe der Geschichte – eilte er spornstreichs in die Kirche, nicht ahnend, dass dort gerade der Gedenkgottesdienst für ihn gehalten wurde. Seine Tochter, die eigens zu diesem Gottesdienst eingeflogen war, fiel auf der Stelle in Ohnmacht. Und dem armen
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