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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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gesehen hatte, selbst in den düsteren, frostigen Nebeln des Januars oder Februars war der Kamin nie angezündet worden. Doch da brannte es, ein Feuer, das der Luft die Feuchtigkeit entzog und eine entspannte, gemütliche Atmosphäre schuf, wie es Dr. Hamilton zweifellos geplant hatte. Es war eine Überraschung, eine echte Überraschung, wie auch die Teekanne, die Karaffe mit Sherry und die kleinen Sandwiches, die auf dem niedrigen Tisch vor dem Sofa bereitstanden, und O’Kanes ohnehin hohe Achtung vor Hamilton stieg gleich noch etwas mehr: »Ach, hallo, Edward«, schnurrte der Arzt und erhob sich vom Schreibtischrand, um O’Kanes Hand zu ergreifen und fest zu drücken. »Wir wollten gerade anfangen.«
    Jedem, der dieser Szene beigewohnt hätte, wäre der Händedruck nur gutmütig und herzlich erschienen, aber O’Kane spürte das schwarze Blut von Nervosität und Irritation durch Hamiltons fleischlose Finger und die feuchte Wölbung seiner Handfläche pulsieren: O’Kane hatte gefehlt, er war zu spät gekommen, er hatte »die drei Ps« verletzt und damit alles in Gefahr gebracht. Trotz aller Ermahnungen des Arztes vom Vortag und obwohl er das Frühstück ausgelassen hatte, früher als sonst von zu Hause aufgebrochen war, Anzug und Hemdkragen unter dem Anstaltskittel getragen hatte, um Zeit zu sparen, und obwohl die Affen im wilden Dschungel seines Gehirns herumgetobt waren, Liane für Liane, Minute für Minute, war er spät dran. Er hatte es falsch angefangen. Gleich von Beginn an.
    Verlegen, mit rotem Gesicht, zu groß für seinen eingelaufenen Anzug, kam sich O’Kane in dem kleinen Raum vor wie ein keulenschwingender Höhlenmensch; er konnte nur den Kopf einziehen und eine Entschuldigung murmeln. Er sah, daß Mrs. McCormick schon da war – die junge Mrs. McCormick, die Ehefrau, nicht die Mutter. Die bestimmte jetzt, wo es langging, und die ältere Mrs. McCormick, Mr. McCormicks Mutter, war wieder in Chicago, wo sie in ihrem goldenen Nest saß, ihre goldenen Eier legte und die Dividende zählte. Was Stanleys – Mr. McCormicks – Pflege betraf, so hatte sie das Feld der jüngeren Frau überlassen. Einstweilen jedenfalls.
    Da O’Kane weder Hut noch Mantel trug, konnte er sich nur kurz die Krawatte zurechtrücken und dann einen Diener vor Mrs. McCormick und der Frau vollführen, die in diesem Moment neben ihr auf dem Sofa aufgetaucht zu sein schien. Er war durcheinander. Irgendwie war er in Mrs. McCormicks Gegenwart immer durcheinander – ob er ihr nun die Tür aufhielt wie ein Lakai, wenn sie wie eine Prinzessin die Eingangshalle der White Street betrat, oder sich in all seiner Sprachlosigkeit darum bemühte, möglichst klug auf ihre vielschichtigen Fragen über die Fortschritte ihres Gatten zu antworten – beziehungsweise über deren Ausbleiben. Sie war eine Dame der Gesellschaft, das war sie, kalt wie ein wandelnder Leichnam, nichts als Pelz, Federn und Edelsteine, und O’Kane gehörte nicht zur Gesellschaft. Nicht im entferntesten. Er war nicht einmal Teil der Gesellschaft, die danach strebte, Teil der Gesellschaft zu sein. Er war Arbeiter, der Sohn eines Arbeiters, der Enkel eines Arbeiters und so weiter, bis zurück zu den Affen – oder zu Adam und Eva, je nachdem, woran man glaubte. Trotzdem, jedesmal wenn er sie sah, eingehüllt in die kalte, harte, schimmernde Schale ihrer Bostoner Schönheit, wäre er schrecklich gern jemand gewesen, der er nicht war, er wollte sie beeindrucken oder zum Lachen bringen, nahe bei ihr sein und ihr schmutzige Sachen ins Ohr flüstern, und es erforderte eine übermenschliche Willensanstrengung, sich einfach nur vorzubeugen, ihre behandschuhte Hand mit den Fingerspitzen zu berühren und sich dann an die ältere Frau neben ihr zu wenden, eine Frau mit einem Gesicht wie ein zerdrückter Vogel inmitten des Federgewirrs, das ihr Hut war, eine Frau, die er so gut wie die eigene Mutter kannte, die er aber irgendwie... nicht so recht...
    Doch dann nahm er Platz – auf dem Stuhl, der dem Feuer am nächsten stand –, ein friedfertiges Lächeln auf den Lippen, unter den Achseln brach ihm schon wieder der Schweiß aus, aber er hatte einen Augenblick Zeit, um Atem zu schöpfen und die Erinnerung über sich hereinbrechen zu lassen: Diese alte Dame, die sich wie die Frau eines Bestattungsunternehmers kleidete, war Mrs. McCormicks Mutter, Mrs. Dexter. Natürlich. Dr. Hamilton sagte irgend etwas, aber O’Kane hörte nicht zu. Er spannte die Nackenmuskulatur an und verrenkte die

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