ROD - Die Autobiografie
gelegentlichen Geldknappheit helfen. Der Vermieter unseres Hauses in der Archway Road 507 hieß Grattage, und noch heute spüre ich einen kalten Hauch von Angst und Abscheu, wenn ich diesen Namen nur höre. »Grattage kommt! Schnell weg!«
Die Archway Road war eine laute, verkehrsreiche Durchfahrtsstraße mit lauter kleinen Läden. Sie lag in einem Arbeiterviertel – das vornehmere Highgate befand sich weiter nördlich. Ein Oberleitungsbus hielt genau vor unserer Haustür, und der Wind blies die weggeworfenen Fahrscheine in die Abflussrinne vor unserem Keller – sehr zum Verdruss meines Vaters, der sie dort ständig herausklaubte. Lange Zeit, nachdem wir weggezogen waren, wurde das Haus abgerissen, damit die Straße verbreitert werden konnte – der Gemeinderat schaffte, was Hitler nicht gelungen war. Als es noch stand, war es ein ziemlich stattliches Haus für die Familie eines Klempners. Drei Zimmer im obersten Stock, zwei im zweiten und im Erdgeschoss neben Küche und Bad das Esszimmer mit der hohen Decke, in dem ein kleiner Flügel stand, auf dem Mum und gelegentlich mein Bruder Don spielten und der Jahre später einmal Fummelexperimente mit dem anderen Geschlecht ganz brauchbar abschirmte.
Der andere Luxusgegenstand in unserem Haus war das Telefon (mit Münzkasten; man benötigte ein Dreipennystück, um nach draußen zu telefonieren) – zu jener Zeit ein nahezu beispielloses technologisches Wunder. Die geheimnisvolle, ehrfürchtige Atmosphäre, die es verbreitete, wenn es – selten einmal – klingelte, ist schwer zu beschreiben. Wer konnte das sein? Wer in aller Welt konnte das sein? Und wer sollte den Hörer abnehmen? Es konnte ein Weilchen dauern, bis das ausgehandelt war. Der Auserwählte meldete sich dann mit seiner Sonntagsstimme: »Mount View Sechs-Eins-Fünf-Sieben.« In den Vierzigern und Fünfzigern sprach man am Telefon etwas vornehmer. Der Apparat verlangte das.
Dad brauchte das Telefon, um den Fußballverein zu organisieren, den er in seiner Freizeit managte – Highgate Redwing, einen Amateurverein mit einer ersten und einer zweiten Mannschaft. Eine Zeit lang hatte der Verein sogar eine Jugendabteilung. Meine Brüder Bob und Don spielten für die Redwings, und ich irgendwann auch. Als ich dafür noch zu klein war, sah ich ehr fürchtig zu diesen Männern auf. Sie waren meine ersten Fußball idole. Vor den Spielen am Samstagvormittag traf sich die Mannschaft bei uns; ungefähr zwei Dutzend Fußballer streunten dann in der Küche und im Flur herum und verteilten sich bis nach draußen auf den Bürgersteig. Meine fiebrige Vorfreude, wenn die Jungs vorbeikamen! Für je einen Penny wusch meine Mutter jede Woche die Trikots. Sie hievte die schlammigen Klamotten in einen riesigen Kessel und rührte sie um. Später hingen die schwarz-weißen Trikots strahlend in einer Reihe auf der Leine quer durch unseren Garten. Ein herrlicher Anblick.
Ich erinnere mich an Familienurlaube in Ramsgate an der Küste von Kent – wir Stewarts harrten alle trotz der Eiseskälte tapfer am Strand aus, wie es sich für gute Briten gehört –, viel deutlicher noch sind mir jedoch die jährlichen Ausflüge mit dem Fußballclub in Erinnerung: Meine Mutter und meine Schwestern schmierten Dutzende Sandwiches für die Vergnügungstour der Redwings nach Clacton-on-Sea, und um acht Uhr morgens fuhren zwei Omnibusse voll mit Spielern, ihren Frauen und Kindern in der Archway Road los. Einfach himmlisch.
Genauso wie die Feiern des Fußballvereins. Vorher ging Dad immer in den Keller und verstärkte den Esszimmerboden von unten mit einem Gerüst und Brettern, und dann strömten alle herein, um zu tanzen und zu singen. Ich wurde ins Bett gebracht, schlich mich aber wieder hinunter und setzte mich unter den Flügel, von wo aus ich die Füße und die mit Kilts bekleideten Beine betrachtete. Dort wurde meine Liebe zum Gesang geweckt. Manchmal führte eine Polonaise aus dem Esszimmer hinaus, die Stufen hinunter auf die Straße und wieder zurück. Es ist nicht schwer, die Ausgelassenheit dieser Erwachsenen zu verstehen, wenn man sich vor Augen hält, was sie erst vor Kurzem durchgemacht hatten. Sie tanzten sich den Krieg von der Seele.
Meine Schwestern Mary und Peggy nahmen mich mit zum Speedway-Rennen in Harringay – sehr beliebt damals. Und mit Mum und Dad durfte ich manchmal ins Kino gehen, ins Rex in East Finchley, wo in der Mitte des Parketts eine tiefe Senke war: Die ersten Reihen lagen höher als die in der Mitte, die letzten
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