Rolf Torring 098 - Indische Märchen
beantworten, Rolf. Ich bin auch erst vor Minuten erwacht."
Rolf schaute zum Fenster hinaus und schüttelte verwundert den Kopf.
„Jetzt glaube ich fast selbst an Wunder, Hans. Der Professor scheint das alles auch erlebt zu haben. Da er sich kein klares Bild machen kann, hat er uns geschickt, das Geheimnis aufzudecken, das Rätsel zu lösen."
„Ich bin mir unklar, was unser 'Gastgeber' mit uns vorhat. Alles ist so merkwürdig: ein gepolstertes Gefängnis, in das man durch eine Fallklappe gestürzt wird, ein gutes Essen, der Betäubungsschlaf, ein Gefangenenquartier mit seidenen Kissen und dem Ausblick auf einen Märchengarten. Hoffentlich läßt sich bald mal jemand sehen!"
„Der Hauseigentümer scheint uns irgendwie nicht als nächtliche Eindringlinge, sondern als Gäste zu werten. Ich werde nicht daraus schlau."
Wir hatten während der Unterhaltung zum Fenster hinausgeblickt und wandten uns dem Inneren des Raumes zu, als wir ein Geräusch in unserem Rücken hörten.
In der bisher leeren Mitte des Raumes stand mit einem Male ein gedeckter Frühstückstisch. Wo war er hergekommen?
Rolf deutete auf den Boden und sagte: „Ein Tischlein-deck-dich, wie im Märchen, aber kein Wunder, der Boden hat eine Versenkungsklappe."
„Lassen wir uns das Frühstück schmecken!" meinte ich.
Wir aßen lange und mit Genuß und ließen kaum etwas übrig.
Unsere einzige Sorge war der Gedanke an Balling und Pongo. Wo waren sie? Würden sie auch gut verpflegt werden?
Rolf und ich untersuchten gemeinsam den Raum. Wir konnten weder eine Tür noch eine Geheimtür entdecken. Ich schaute mich nach dem Frühstückstisch um; er war unbemerkt inzwischen wieder verschwunden. Unser Gastgeber mußte uns von irgendeiner verborgenen Stelle aus beobachten können.
Ich machte Rolf auf meine Beobachtung aufmerksam. Mein Freund zuckte mit den Schultern und sagte:
„Das habe ich schon bemerkt. Man wird auch jedes Wort, das wir sprechen, irgendwo abhören können. Deshalb spreche ich schon Deutsch."
„Das wird sicher auch verstanden, Rolf. Wir müssen eben abwarten, was weiter geschieht. Einmal müssen wir ja Klarheit erhalten."
„Laß uns den Garten noch ein bißchen bewundern, Hans. Er ist wirklich schön. Der Herr des Besitztums muß über eine zahlreiche, geschulte Dienerschaft verfügen, um ihn in Ordnung halten zu lassen."
Schweigend schauten wir wieder zum Fenster hinaus. Da kam doch ein Mensch! Die junge Inderin, die wir gestern beim Baden beobachtet hatten, schritt, von vier Dienerinnen gefolgt, langsam durch die Anlagen. Sie trug ein indisches Prunkgewand. Der schlichte Schmuck, der Körper und Gewand zierte, war sehr wertvoll und würde nach deutschem Gelde Hunderttausende kosten. Ich mußte an eine verwunschene Prinzessin denken, die man in einem Märchengarten gefangenhält.
Mein Erstaunen stieg auf den Höhepunkt, als drei Leoparden durch den Garten gesprungen kamen und die junge Inderin freudig umkreisten. Der Leopard wird in Indien öfter gezähmt und als Haustier gehalten, da er sich auf der Jagd von großem Vorteil erweist.
Plötzlich wandte sich die Inderin um und schaute zu uns herauf. Ihr Blick war nicht ärgerlich, sondern fast bittend; ein geheimer Kummer schien mir darin zu ruhen.
Da ertönte ein heller Ruf: die Inderin schaute sich rasch um und schritt weiter.
Ich blickte Rolf an. Er war ebenso verwundert wie ich. Als ich ihn etwas fragen wollte, bedeutete er mir, zu schweigen. Rolf vermutete wohl, daß das Geheimnis des Hauses mit der jungen Inderin zusammenhing.
Ein Geräusch in unserem Raum veranlaßte uns umzudrehen. Ein junger Inder stand im Zimmer Er trug keine Waffen. Seine einzige Bekleidung bestand aus einem weißen Lendenschurz. Als wir ihn ansahen, verneigte er sich tief und sagte:
„Fürst Ralingo, mein Herr, entbietet den Sahibs durch mich seinen Gruß. Er lädt Sie ein, das Mittagsmahl mit ihm einzunehmen."
„Wir erwidern die Grüße ergebenst und sagen unseren herzlichsten Dank für die gewährte Gastfreundschaft," formulierte Rolf die Antwort. „Wir werden das Mittagsmahl gern mit ihm einnehmen. Eine Bitte habe ich an dich noch: kannst und darfst du uns sagen, wo wir uns befinden?"
Meiner Ansicht nach war Rolf zu liebenswürdig zu dem jungen Inder.
„Die Sahibs sind im Märchenschloß des Fürsten Raiingo, mehr darf ich nicht sagen,"
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