Rosenschmerz (German Edition)
auf dem
Betonboden ausgebreitet hatte. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie sich
übergeben müssen.
Während der Traktor ihre Mutter zermalmte, hatte sie sorgfältig
darauf geachtet, unsichtbar zu bleiben. Nun aber hatte sie das Bedürfnis,
hinauszurennen oder zu ihrem Vater hinzuspringen oder sich über ihre
zerquetschte Mutter zu werfen. Sie tat nichts von dem.
Das Mädchen rannte auf sein Zimmer, griff in die Geheimschublade und
riss den Brief auf, den sie seit zwei Wochen dort versteckt hielt. Keine Träne
trat aus den Augen, doch alles Blut war aus dem Gesicht gewichen, als das Madl
die Zeilen las, die ihr die Mutter hinterlassen hatte.
Sie hörte Geräusche von unten. Der Bulldog fuhr aus dem Schuppen.
Sie ging hinunter und wischte das Erbrochene weg. Der Vater sollte es nicht
finden. Er sollte nicht wissen, dass sie den Mord an ihrer Mutter beobachten
musste.
Er hatte ihren Körper entsorgt, und auch sonst war nichts zu
entdecken.
ERSTER TAG
Das Granteln, die Sturheit, die Bosheit. Ein
Mordsgedächtnis, wenn es darum geht, jemandem etwas nachzutragen. Alles
Eigenschaften, die dem Oberbayern gern unterstellt werden. Doch ein
ausgeprägtes Merkmal des bayrischen Charakters wird oft unterschätzt: die
Allwissenheit.
So wusste Kriminalrat a.D. Josef »Joe« Ottakring schon gleich in der
Früh, dass dieser Tag kein guter werden würde. Er verspürte eine leichte
Gereiztheit, wie bei jener Andeutung von stechendem Schmerz in seinem Rücken,
wenn er einen komplizierten Fall zu lösen hatte. Ottakring stand am offenen
Fenster und blickte nach Osten. Die aufgehende Sonne stand ihm viel zu tief und
blendete. Kreischende Schulkinder mit grässlich bunten Rucksäcken wateten durch
den kniehohen Schnee. Er hatte ja nichts gegen Kinder, aber grad diese …
Rechts verdeckten Häuser und ein paar dunkle Wolken die Sicht auf den Wilden
Kaiser, und selbst wenn diese Hindernisse nicht da gewesen wären, hätte bei
Ottakrings derzeitiger Stimmung das Kaisermassiv die Weitsicht auf die
österreichische Landschaft versperrt.
Vor Kurzem erst war er in die Stadt nach Rosenheim gezogen. Obwohl
ihm die Wohnung in Neubeuern eigentlich sehr getaugt hatte. Aber nach ein paar
Hochzeiten im Saal vom Vornberger, der Marktbeleuchtung mit einem Dauerredner
vornedran, dem Tag der Blasmusik, dem Bierfest der Feuerwehr, der Motorradweihe
und einem »Jedermann« am Bürgel mit dem Dorfpfarrer in der Hauptrolle hatte er
sich ein bunteres Angebot an gesellschaftlichen Ereignissen gewünscht. Das
konnte auch der wunderschöne Neubeurer Marktplatz nicht wettmachen.
Rosenheim, die Kreis- und Fachhochschulstadt dagegen, war die
Booming Town zwischen München und Salzburg. Konzerte, Theater,
Kunstausstellungen und ein modernes Kinozentrum waren an der Tagesordnung. Auf
den üppigen Rosenheimer Fasching konnte er verzichten, den hatte er in München
schon immer gemieden. Aber das Herbstfest, das Ende August begann, und, jetzt
im Winter, ein Besuch am Christkindlmarkt, ein Glühwein in einem der
Altstadtwirtshäuser, und das alles zu Fuß oder mit dem Radl – das konnte
ihm nur die Stadt Rosenheim mit ihren sechzigtausend Einwohnern bieten.
Ottakring mochte auch die Wesensart ihrer Bewohner. »Wenn du dich zu
jemandem an den Tisch setzt, tut er nicht erstaunt, und wenn du dich allein in
die Ecke flackst, ist’s auch recht«, hatte er zu Lola gesagt. »Wenn du nach
München willst, setzt du dich in den Zug und fährst hin.« Lola kam neuerdings
fast ausschließlich mit der Bahn aus München. »Wennst magst, heuerst du in
einem Fitnesszentrum an und lässt die Muskeln spielen.« In Neubeuern hatte er
solche Angebote vermisst, und so war Ottakring froh, dass er sich entschieden
hatte, umzuziehen. Leicht war es ihm nicht gefallen.
Er hatte sich ein kleines Reihenhaus gewünscht. Doch seine Pension
war spärlich, und er wollte kein finanzielles Risiko eingehen. Außerdem lag die
Rosenheimer Wohnung relativ ruhig und besaß alle Vorteile einer zentralen Lage.
Er hatte Mühe gehabt, alle Möbel in den drei Zimmern unterzubringen. Vor allem
die Erbstücke seines Onkels, der Weihbischof war, hatten Planung und Augenmaß
verlangt. Den geschnitzten Eichenschrank konnte er an der Längswand im
Wohnzimmer gegenüber der Balkontür platzieren, die deckenhohe Standuhr prangte
in der Diele.
Ottakring schloss das Fenster zur Papinstraße. Draußen war es viel
zu kalt, selbst wenn man bedachte, dass bald Weihnachten war. Ach, Weihnachten.
Er hatte noch
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