Märchensommer (German Edition)
1. In die falsche Richtung
ICH STAND VOR einem moralischen Dilemma.
Sollte ich ihn mir krallen … oder lieber nicht?
Das Material des violetten Sweaters, den ich gerade in der Hand hielt, war verführerisch weich. Er roch wunderbar frisch und war nicht mit Löchern übersät. So etwas Schönes hatte ich zuletzt getragen … whoa, da musste ich etwa fünf Jahre alt gewesen sein. Der Reißverschluss ließ sich spielend auf- und wieder zuziehen. Ich rieb den Stoff an meiner Wange. Gar nicht kratzig—im Gegensatz zu dem scheußlich-grauen Secondhand pulli, den ich schon seit zwei Wochen anhatte.
Es gab nur ein klitzekleines Problem mit dem Sweater. Das Preisschild.
Ich ließ meinen Blick über die vielen Leute am Camden Market schweifen. An diesem Freitagnachmittag platzte der Markt aus allen Nähten. Jeder war damit beschäftig, Kleider anzuprobieren, Schmuck zu begutachten oder Spielsachen für ihre Kleinen auszusuchen. Die Besitzerin dieses Standes unterhielt sich gerade mit einer alten Dame und hatte mir den Rücken zugedreht. Wenn ich den Sweater in meiner Tasche verschwinden lassen wollte, war dies der perfekte Zeitpunkt.
Jetzt oder nie.
„Worauf wartest du, Montiniere?“, murmelte mir Debbie ins Ohr. „Wenn du die Jacke willst, dann nimm sie endlich. Aber mach schnell, denn ich hab die Kasse der Lady gerade um fünfzig Pfund erleichtert.“ Sie wackelte mit ihren blonden Augenbrauen.
Debbie Westwood war nicht meine Freundin. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinn, wo man wilde Pyjamapartys schmeißt und sich gegenseitig die verrücktesten Geheimnisse anvertraut. Ich hing nur manchmal mit ihr ab. Debbies Auffassung von der Welt, die sie, wie sie oft meinte, mit Leidenschaft am Arsch lecken konnte, machte Eindruck auf mich. Seit dem Moment, als sie vor ein paar Monaten am Earls Court in mich hinein gekracht war, hatte ich sie zu meinem Idol ernannt. Sie war damals auf der Flucht vor einem Kaufhaus-Cop gewesen, der sie dabei erwischt hatte, wie sie ein Paar Krokodillederstiefel mitgehen ließ. Du meine Güte, ich hätte wissen müssen, dass es mir nur Ärger einbringen würde, wenn ich mich mit einer Kriminellen anfreundete.
Anders als ich, lebte Debbie nicht in Londons einzigem öffentlichen Jugendheim, sondern auf der Straße. Was mich anging, so gestattete uns Miss Mulligan, die Heimleiterin, Freigänge nur dienstags und freitags. Und da hatte ich sogar noch Glück, denn Heimkinder unter siebzehn Jahren durften nicht einmal dann alleine raus.
Ein Hoch auf meinen siebzehnten Geburtstag! Ich war total ekstatisch gewesen, als ich endlich nicht mehr an Gruppenexkursionen teilnehmen musste. London machte viel mehr Spaß allein. Keine Lehrer, keine Regeln, kein Garnichts.
Nur ich. Und dieser hübsche lila Sweater.
Ich krallte meine Finger tiefer in den Stoff. Mein Herz tanzte einen Tango, als ich kurz davor war, mir zu nehmen, was ich wollte. Natürlich war es falsch. Doch das änderte nichts. Ich wollte auch endlich wieder einmal etwas Neues tragen, anstatt immer nur diese alten Lumpen.
Das Geräusch, als jemand den Reißverschluss meines Rucksacks öffnete, löste eine Gänsehaut in meinem Nacken aus. „Was machst du denn da?“, fauchte ich und drehte mich zu Debbie um.
Sie grinste mir ruchlos ins Gesicht. „Was denkst du wohl? Ich helfe dir.“ Mit ihrem Körper schirmte sie mich von der Verkäuferin ab und stopfte kurzerhand den Sweater in meinen Rucksack. „Sieh dich an. Mit deinen ekelhaften Fetzen scheuchst du ja sogar die Hunde davon. Du hast Glück, dass ich mich überhaupt mit dir abgebe.“
Ich blickte nach unten zu meinen zerschlissenen Jeans und den abgetretenen Doc Martens. Feuer schoss mir vor Scham in die Wangen. Debbie hatte nicht einmal ein Dach über dem Kopf, und doch war sie immer gekleidet wie die Queen der Oxford Street. Wenn ihre Klamotten schmutzig waren, warf sie diese einfach weg und besorgte sich in einem eleganten Raubzug neue Sachen. So einfach war das.
Als ich Debbie kennengelernt hatte, dauerte es nicht lange, bis sie mich davon überzeugt hatte, dass es in dieser Stadt mehr als genug für alle gab. Sie lebte nach einer einfachen Philosophie: Der übertrieben hohe Preis, den manche Leute für Lederjacken oder hochhackige Schuhe bezahlten, machte unsere kleinen Ladendiebstähle allemal wieder wett.
Und ich wollte diesen Sweater!
Ich behielt die Verkäuferin in gestreiften Leggins und dem verrückten Strohhut im Auge und wartete einen kurzen
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