Rosenschmerz (German Edition)
abgewandtem Gesicht
schleppte er sich zur Tür. Er war fast draußen, da drehte er sich noch einmal
um.
»Hallo«, zischte er der Kramerin zu. »Scholl. Der Kriminaler. Wissen
Sie zufällig, wo der …?«
»Der mit dem Motorrad? Der findet draußen am Friedhof statt. Ich glaub,
auch um halb drei.«
So viel zur bayrischen Allwissenheit.
Rein in den alten Porsche. Herrn Huber beruhigen. Den
Mantel auf den Rücksitz werfen. Gas geben. Verdammt, wo ist ein Parkplatz?
Rückwärtsgang, Gas geben. Einhundert Meter, zweihundert Meter, endlich ein
Parkplatz. Rückwärts einparken. Ungeduldiges, schrilles Gehupe – »ja wo
sammer denn. Da könnt ja jeder …«, brüllte einer mit gezwirbeltem
Schnurrbart aus seinem offenen Wagenfenster. Oberbayern brauchen nie lange zu
suchen. Sie finden immer was zum Aufregen. Aufregen ist bei ihnen so beliebt
wie Blasmusik und Politikerderblecken.
Ottakring war schon auf dem Weg, da fiel ihm ein, dass er sich von
Herrn Huber nicht verabschiedet hatte. Er kehrte um und wandte die erprobte
Formel an: »Huber, sorry! Ich geh nur schnell einkaufen, bin gleich wieder da.«
Oh verdammt, der Hund musste mal raus, das sah man ihm an. Also: »Komm,
Herr Huber, schön pieseln. Aber schnell!« Hund wieder im Auto verstauen. Im
Laufschritt zum Friedhof. Kruzitürken, Mantel vergessen. Wieder zurück, Mantel
einsammeln. Hund beruhigen.
Im Laufschritt brauchte er zum Friedhof keine fünf Minuten.
Unterwegs zog er den Mantel wieder aus und warf ihn über den Arm. Die letzten
Meter legte er gehend zurück. Dunkel gekleidete Frauen mit Hüten auf dem Kopf
und dicken Schals um den Hals gingen gebückt auf den Wegen zwischen den
Gräbern. Er überholte sogar den Unimog der Stadtgärtnerei, in dem zwei Männer
saßen. Schwitzend und außer Atem kam er an der Aussegnungshalle an. Er erntete
erstaunte Blicke. Leichter Schneefall setzte ein. Ottakring zog den Mantel
wieder an und klappte den Kragen hoch.
»… verlieren wir einen tüchtigen …« Der Polizeipräsident
aus München räusperte sich und setzte erneut an. Er war ein hochgewachsener,
wuchtiger Mann mit breiter Brust. Selbstverständlich trug er Uniform. Er sprach
frei und hatte einen dröhnenden Bass. »… eine sehr tüchtige
und beliebte Führungskraft.« Dabei richtete er den Daumen auf den Sarg neben
ihm.
Einfache Fichte, kam es Ottakring in den Sinn. Bretter, die die
andere Welt bedeuten.
»Er hatte keine Chance. Er wurde mitten aus dem Leben gerissen. Und
hatte alles noch vor sich. Das Leben mit seiner Familie, eine glänzende
Karriere. Das weiß ich, denn auch ich, wie Sie vielleicht wissen, war vor
Jahren Leiter des Kommissariats 1
in Rosenheim. Sozusagen der Urgroßvater des Verstorbenen.« Der Präsident ließ
den Blick schweifen. »Sebastian Scholl hinterlässt seine Frau Birgit,
Ferdinand, seinen achtjährigen Sohn, und sein Vater trauert um ihn.«
Die Hinterbliebenen standen auf der anderen Seite des Sargs. Ein
distinguiert wirkender Herr um die siebzig mit vollem weißem Haar, die Witwe,
gefasst, im schwarzen Hosenanzug, und Ferdinand, der sich an sie schmiegte.
»Unser tiefes Mitgefühl, verehrte Frau Scholl, gilt Ihnen und Ihrem
Sohn. Ich hab mir sagen lassen, dass Sie und Ihr Mann den Tag genutzt haben. Im
positiven Sinn. Sie haben Ihr gemeinsames Leben nicht aufgeschoben. ›Morgen ist
auch noch ein Tag‹, ist eine schlechte Devise. Denn was, wenn morgen kein Tag mehr
ist? So wie in diesem Fall? Dann bleibt das Leben ein Plan, ein Entwurf, eine
nie ausgeführte Skizze …«
Ottakring musste daran denken, wie ihm während einer Ermittlung
Scholls Schuhe aufgefallen waren. Viel zu große Schuhe und ausgelatscht wie bei
einem alten Mann. Doch immer auf Hochglanz poliert. Er unterdrückte ein Lachen,
das sich durch seinen Hals drängte. Als grunzender Laut kam es oben an.
Zwei, drei Köpfe vor Ottakring klingelte ein Handy. Die Besitzerin
duckte sich. Als sie mit hochrotem Kopf wieder auftauchte, schmunzelte er. Es
war sein Patenkind Chili Toledo. Sie arbeitete in Scholls Kommissariat.
Im K1.
Seit sein Freund Torsten, Chilis Vater, verstorben war, fühlte er sich wie eine
Art Ersatzvater für sie.
Ottakring ließ den Blick weiterschweifen. Bestimmt hundertfünfzig
Menschen ringsum. Wenn nur fünf echte Freunde unter den Trauergästen sind, dann
kann der Tote mit seinem Leben zufrieden sein, dachte er. An einer Thujenhecke
entlang hatte er sich ein paar Meter nach vorn gearbeitet. Eine junge Frau fiel
ihm auf, die
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