Rotglut
wie weit es in die Breslauer Straße sei. Unwirsch reagiert der Fahrer, antwortet ihm, die Entfernung betrage sechs Mark. Dann kann es nicht weit sein. Er geht zu Fuß, den Mantelkragen hochgeschlagen, steckt sich eine Zigarette an. Bei VW ist wohl Schichtwechsel, denn ein Menschenstrom kommt ihm entgegen. Die neue Schicht scheint schon auf dem Werksgelände zu sein. Ein untersetzter Mann in einem Wildlederblouson stoppt ihn und bittet ihn um Feuer. Raimund muss das Feuerzeug mit der Hand abschirmen, da der Wind die Flamme immer wieder erlöschen lässt.
Zweimal muss er sich nach dem Weg erkundigen. Ennos Kritzelei ist weder maßstäblich noch wirklich leserlich. Als er in der Breslauer Straße ankommt, ist er völlig durchnässt. Er hat nicht nur die Strecke unterschätzt sondern auch die Intensität des Regens. Das sind mindestens drei Kilometer bis zu seinem Ziel. Die Straße zieht sich. Obwohl der Wetterbericht für heute einen sonnigen Frühlingstag angekündigt hat, ist es trüb und wohl, wie die Wetterleute sagen würden, für die Jahreszeit zu kühl.
Raimund bleibt vor einem schmuddelig wirkenden Haus stehen und vergewissert sich, dass die Hausnummer stimmt. Wenn er sein Anliegen einem alten Rentner im falschen Haus vortragen würde, wäre er schneller in Polizeigewahrsam, als er bis drei zählen könnte. Der Typ mit der Zigarette hat wohl denselben Weg gehabt – Raimund hat ihn bis jetzt gar nicht bemerkt –, denn er eilt nun an Raimund vorbei, nickt ihm zu und verschwindet hinter der nächsten Hausecke. Ein Kinderfahrrad liegt im Vorgarten, in dem sich nur mühsam ein paar purpurfarbene Stockrosen aus dem Unkrautdickicht den Weg ins Licht gebahnt haben. Ungepflegt, aber romantisch. Den Blick ins Innere verwehren gehäkelte Scheibengardinen. Das Gartentor ist geöffnet, hängt schräg in den Angeln.
Raimund fallen die hübsch und bunt bepflanzten, verzierten Keramiktöpfe ins Auge, die die Haustür flankieren. Sie passen so gar nicht ins Bild. Er hat keine Ahnung, aber die Töpfe könnten reiner Jugendstil sein.
Noch bevor er an die Tür klopfen kann, wird sie geöffnet. Ein junger Mann steht auf der Schwelle, nur mit einer Unterhose bekleidet. Er ist mager, und eine riesige Nase sticht aus seinem knochigen Gesicht hervor.
»Verpiss dich!« Und schon ist die Tür wieder zu.
Raimund klopft.
»Hallo, Ilse, Enno schickt mich. Ich komme extra aus Bremen und bin klatschnass«, sagt er laut und deutlich.
Er wartet kurz und setzt erneut zum Klopfen an, als sich die Tür wieder öffnet. Eine junge Frau, vielleicht Mitte 30, im Minirock und einer langen bunten Batikbluse steht vor ihm.
»Komm rein, ich koch gerade Wasser für den Tee.« Sie hält ihm die Tür auf und lässt ihn vorgehen. Trotz ihrer Einladung wirkt sie argwöhnisch.
»Also Enno schickt dich. Warum?« Die Frau macht sich an einem Wasserkessel zu schaffen, den sie auf den Gasherd setzt. Ein Holzkistchen mit Teebeuteln steht auf dem Tisch, daneben ein Aschenbecher, in dem schon einige Kippen liegen.
»Ich möchte bei euch mitmachen«, sagt er geradeheraus.
»Mitmachen? Wobei?« Misstrauisch sieht sie ihm ins Gesicht.
›Ja, wobei eigentlich?‹ Raimund betrachtet die junge Frau. Sie ist nicht wirklich hübsch, hat aber ein ebenmäßiges Gesicht. Ihre dunkelblonden Haare sind lang, den Scheitel trägt sie leicht nach links versetzt.
Raimund antwortet nicht gleich, er schaut sich, sorgsam seine Antwort im Kopf formulierend, in der Wohnküche um. Das Mobiliar ist zusammengewürfelt, aber gemütlich. Nicht gerade Hannelores Geschmack, bei der alles zusammenpassen muss und wie aus dem Ei gepellt auszusehen hat. Hier dominiert Holz, bei ihm zu Hause regiert das Resopal.
Ilse hat ihm einen Stuhl angeboten und eine Tasse mit heißem Wasser hingestellt. Sie schiebt ihm das Holzkästchen zu. Den Mantel nimmt sie ihm nicht ab. Raimund fröstelt, aber er traut sich nicht, den nassen Mantel einfach auszuziehen und über den Stuhl zu hängen. Er klaubt einen Teebeutel aus der kleinen Kiste und befördert ihn in die Tasse.
»Also, was willst du?« Nach seinem Namen fragt sie nicht.
»Ich weiß von Enno, dass ihr dabei seid, ein paar Aktionen zu planen. Ich kann euch behilflich sein.« Raimunds Stimme wird eifriger. »Ich arbeite bei einem Sicherheits- und Wachdienst. Ich kann euch Zugang verschaffen zu Banken und Firmen, in die Zentralen der Macht.« Er schluckt, jetzt hat er wohl übertrieben. Ilse grinst, Raimund grinst zurück.
»Steh mal auf
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