Rotglut
und dreh dich um«, fordert die Frau ihn auf. Jetzt wird er wohl gemustert. Ist ja wie bei der Bundeswehr. Raimund steht gehorsam auf und dreht sich einmal um die eigene Achse.
»Und jetzt raus!« Ilse steht auf, fummelt aus ihrer Rocktasche ein zerknautschtes Päckchen Zigaretten, zieht mit den Lippen eine heraus und geht an ihm vorbei zur Tür.
»Ich kenn dich nicht und hab auch keinen Bedarf, dich näher kennenzulernen. Also mach, dass du rauskommst, und lass dich hier nicht mehr blicken. Und sag Enno, er soll mir in Zukunft niemanden mehr schicken. Meine Leute suche ich mir selber aus.« Sie zündet die Zigarette an, inhaliert tief und bläst den Rauch in seine Richtung.
Raimund ist so verblüfft, dass er ihr tatsächlich ohne ein Wort zur Tür folgt, die Ilse bereits geöffnet hat. Draußen dreht er sich noch einmal um.
»Ich verstehe nicht ganz, ich hab dir doch gesagt, dass Enno mich extra geschickt hat. Ihr könnt mir vertrauen.« Seine Stimme nimmt einen nahezu verzweifelten Klang an. Ilse macht eine abwehrende Handbewegung.
»Verzieh dich, du glaubst gar nicht, wie viele Leute ich kenne, die mich sofort verpfeifen würden, wenn ich, wie du sagst, eine Aktion planen würde. Die einzigen Aktionen, die ich im Moment am Laufen habe, sind die, mir Spinner wie dich vom Leib zu halten. Wie hat der weise Lenin doch gesagt: ›Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.‹« Ilse schnippt ihren Zigarettenstummel in den Garten und schon ist die Tür zu.
Raimund ist fassungslos. So hat er sich seinen Start als Weltverbesserer nicht vorgestellt. Es hat nur noch gefehlt, dass Ilse hinter ihm herträllerte: ›Trau, schau, wem.‹ Vielleicht hat Hannelore doch recht. Er schaut auf die Uhr. Wenn er sich beeilt, ist er zum Abendessen wieder zu Hause in Bremen. Doch dann ist er wütend auf sich selbst. So leicht gibt ein Raimund Stegmann nicht auf. Er wird Ilse, Andreas, Ulrike, und wie sie alle heißen, zeigen, dass er zu ihnen gehört. Irgendwann.
4 Originalzitat der RAF 1971 aus ›Das Konzept Stadtguerilla‹
5 Ilse Schwipper saß in der Realität zu dieser Zeit bereits in der Frauenhaftanstalt Vechta
24. Juni 2010, Bremen
Kriminalhauptkommissar Hölzle hoffte, er hätte sich verhört, aber der hinterste Winkel in seinem Gehirn hatte bereits entschieden, dass dies leider nicht der Fall war, und schon Alarmstufe Rot ausgegeben.
»Wann kommen deine Eltern?«, rief er, wie er glaubte, harmlos in Richtung Küche. Dort befand sich Christiane und bereitete das Abendessen zu.
»Du brauchst gar nicht so einen Unterton mitschwingen zu lassen«, kam es postwendend zurück. »Meine Schwester kommt übrigens auch mit.«
Heiner Hölzle fiel beinahe das Glas aus der Hand, das er gerade vom Tisch nehmen wollte. Carola! Auch das noch. Mit der konnte er ja überhaupt nichts anfangen, und wenn Christiane mal ehrlich wäre, sie nämlich auch nicht. Carola, die personifizierte Lebensuntüchtigkeit, die ohne ihre Familie gänzlich aufgeschmissen wäre. Sie wohnte in einer Einliegerwohnung im Haus ihrer Eltern, gab Yoga-Kurse und betrieb eine Mischung aus Heilpraktik und Esoterik. Hölzle verstand auch nicht, wie sich so eine hübsche Frau, denn das war Carola tatsächlich, so hässlich zurechtmachen konnte. Sie sah Christiane ziemlich ähnlich, nur deren exquisiten Klamottengeschmack besaß sie leider nicht. Carola rannte dauernd in irgendwelchen Schlabberpullis, weiten Hosen oder langen Röcken, die jeweils aussahen, als hätte sie sie auf einem indischen Basar erstanden, und offenen Latschen herum. Sommer wie Winter ohne Socken, die bläulichen Zehen ignorierend, wenn es richtig kalt war. Ihre langen, mit Henna gefärbten Haare ließen den Stufenschnitt, der einmal vorhanden gewesen war, kaum noch erkennen und meist sahen sie aus, als hätten sie tagelang kein Shampoo mehr gesehen.
Während Heiner noch über die riesigen Unterschiede zwischen Carola und ihrer Schwester nachgrübelte, erschien Christiane in der Tür und sagte: »Du kannst schon mal decken, bitte. Ich bin gleich so weit.«
Kurz darauf saßen sie sich an dem gemütlichen Esstisch gegenüber und kämpften mit den überlangen Spaghetti, die Christiane mit Basilikum, Meersalz, frisch gemahlenem schwarzen Pfeffer und natürlich Parmesan zubereitet hatte.
»Jetzt weiß ich immer noch nicht, wann genau deine Eltern kommen«, nahm Hölzle den Faden wieder auf und schob die Gabel in den Mund. »Lecker übrigens, was du da gezaubert hast.«
»Danke«, sie lächelte.
Weitere Kostenlose Bücher