Rotglut
Immer hatten sie geunkt, dass es ihn wahrscheinlich eine halbe Stunde nach seiner Pensionierung treffen würde, und dann hatte es Rosi eine halbe Woche nach diesem so lang herbeigesehnten Tag getroffen. Herzinfarkt, bums, aus und vorbei.
Den Urlaub hatten sie noch nicht gebucht, und als er sich endlich dazu aufraffen konnte, stand Wurzel vor seiner Tür. Die Kinder hatten es ja nur gut gemeint und Wurzel war in der Tat ein hinreißendes Geschöpf und bald auch ein wunderbarer Begleiter geworden. Auch als Gesprächsanbahner war Wurzel nicht zu verachten. Spazierte Warneke mit ihm durch die Bremer Parks, konnte er sicher sein, bald in ein Gespräch über Hundeerziehung und Hunde im Allgemeinen verwickelt zu werden. Wurzel, sein Rauhaardackel, konnte das, was Warneke, bis auf eine Ausnahme, nämlich Rosi, nie geschafft hatte: Er becircte Frauen in Sekundenschnelle.
Doch heute haben sich der Alte und sein Hund zu einem Waldspaziergang entschlossen und dafür ist er extra Richtung Verden gefahren.
Wurzel wuselt durch das Unterholz, während sich Warneke Gedanken darüber macht, ob er nicht doch einmal einen Skikurs belegen soll. Skilanglauf, alles andere käme natürlich nicht infrage.
Noch bevor er einen endgültigen Entschluss fassen kann, hört er seinen Hund winseln. Das Geräusch dringt merkwürdig entfernt an sein Ohr, obwohl er den Dackel noch vor einer Minute an einem Haufen mit Hasenkötteln hat schnuppern sehen. Dann war er ins Unterholz gejagt, ganz sicher, wie Warneke vermutet, um dem Hasen auf die Spur zu kommen.
»Wurzel, Wurzel, hierher, hier zu Herrchen!«, ruft er den Hund, der immer sofort gehorcht, was für einen Rauhaardackel in Rentnerhand eher ungewöhnlich ist.
Nichts, kein Hund in Sicht, nur das entfernte Winseln, das nun unterbrochen wird von einem immer stärker anschwellenden Jaulen.
›Um Himmels willen, hoffentlich hat sich der Hund nicht verletzt.‹ Warneke biegt vom Hauptweg ab in den Kiefernwald, folgt dem Jaulen seines Dackels. Immer schneller rennt er, stolpert über einen Ast, der quer auf dem Weg liegt. Während er rennt, kommt es ihm in den Sinn, dass er sich fast mehr Sorgen um das Wohlergehen seines Hundes macht, als er sich jemals Sorgen um Rosi gemacht hat. Sie war doch nie ernsthaft krank gewesen.
Das Hundejaulen hat sich zu einem schrillen Fiepen gesteigert, der Hund spürt, dass sein Herrchen ihm zur Seite stehen wird.
»Wurzel, mein Gott, was hast du denn?« Erleichtert und schweißgebadet erreicht Warneke seinen Hund, nachdem er gebückt unter den tiefhängenden Tannenzweigen hindurchgekrochen ist. Seine Glatze hat etliche feine Kratzer davongetragen, er hat nicht einmal bemerkt, dass ihm sein grüner Lodenhut abhandengekommen ist.
Schwanzwedelnd sitzt Wurzel da, als sein Herrchen sich zu ihm hinunterbeugt. Warneke streichelt ihm den Kopf, der Hund leckt ihm hingebungsvoll die Hand. ›Da, schau mal, Herrchen, was ich gefunden habe‹, scheint er zu sagen.
Während Warneke seinen Hund im Unterholz verfolgt hat, hat dieser fleißig Erde und Laub mit seinen Vorderpfoten weggescharrt, bis er auf eine Plastikfolie gestoßen ist, die zwar einen tiefen Riss aufweist, aber für Dackelpfoten dann doch zu stabil ist. Durch diesen Riss dringt ein Geruch, den Wurzel als durchaus aufregend empfindet, der Warneke dann aber lediglich an modrige Lappen erinnert.
»Wurzel«, sagt er streng. »Du kannst doch nicht einfach deiner eigenen Wege gehen.« Er seufzt. Was soll der Hund von einem solchen Satz halten? Gar nichts.
»Na, dann zeig dem Herrchen mal, was du da gefunden hast«, seine Stimme klingt nun lobend, Wurzel ist begeistert. Der Dackel fängt sofort wieder an zu scharren, Erdbrocken fliegen Warneke um die Ohren. Na ja, wohl eher um die Beine. Wie viel Kraft so ein kleiner Hund doch besitzt. Er ist beeindruckt.
Einen Moment beobachtet er belustigt seinen kleinen Gefährten, doch dann stellt sich ihm eine naheliegende Frage: Auf was ist der Hund denn eigentlich gestoßen? Ein Dackel ist ein Jagdhund, ausgestattet mit einer hochsensiblen Spürnase. Jetzt hat auch Warneke das Jagdfieber gepackt. Er will wissen, nach was sein Hund mit fliegenden Ohren gräbt. Mit seinem Spazierstock – er hat ihn extra gekauft, um sich in seinen zukünftigen Ferien diese herrlich bunten Metallschildchen der Urlaubsorte darauf nageln zu können – stochert er in der flachen Grube, die sein Hund mittlerweile gebuddelt hat. Auch die Plastikfolie hat er bereits erspäht, es wird wohl jemand
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