Rotglut
Spurensicherung, wie Keller Warneke erklärt.
»Wir haben, nachdem wir die Leiche gefunden haben, nichts angerührt«, versichert Warneke eifrig. »Wir haben nur ein wenig gescharrt«, fügt er entschuldigend hinzu, als Keller bei Ankunft am Fundort die Augenbrauen missbilligend hochzieht.
»Darf ich dabeibleiben, wir halten uns auch im Hintergrund?«, fragt er vorsichtig. Keller nickt gnädig.
Behutsam entfernen die Polizisten die restliche Erdschicht mit kleinen Schaufeln und Bürsten, kratzen hier, schrubben da. Dann ist die Plastikfolie komplett freigelegt, liegt in der Grube wie ein riesiger Sack. Vorsichtig vergrößern sie den Riss, schneiden dann die Folie langsam auf.
»Aha«, ist der einzige Kommentar, den Keller von sich gibt. Er wendet sich an Warneke, der mit gebührendem Abstand hinter ihm steht.
»Sie können dann nach Hause, der Kollege wird noch Ihre Adresse notieren, und wir setzen uns sobald wie nötig mit Ihnen in Verbindung.«
»Ja, aber was ist denn in dem Sack?« Warneke reckt neugierig den Hals. Wurzel hat die Ausgrabung erstaunlich ruhig verfolgt. Er hat es sich auf den Füßen seines Herrchens bequem gemacht. Für heute hat er genug geleistet und sich bestimmt ein Leckerchen verdient.
»Sie haben es ja bereits geahnt. Es sind die sterblichen Überreste eines Menschen, und soweit wir an der noch vorhandenen Kleidung feststellen können, die eines Mannes.«
Noch bevor Keller weiterreden kann, nähert sich einer der Spurensicherer mit einer durchsichtigen kleinen Plastiktüte.
»Chef, das haben wir in der Plastikfolie direkt in Hüfthöhe der Leiche gefunden. Es ist entweder aus der Gesäßtasche gefallen oder es ist dem Mörder hineingefallen, als die Leiche in die Folie eingepackt worden ist. Das Ding ist zwar leicht verwittert, aber dieser Filz hält einiges aus.«
Keller greift die Tüte mit zwei Fingern und hält sie hoch. Düster ist es im Wald, die Dämmerung bricht bald herein. Im Beutel liegt ein Bierdeckel, auf der einen Seite eindeutig eine stilisierte Ameise, in verblassten Buchstaben umrahmt von den beiden Worten ›Rote Ameise‹, auf der anderen Seite das Emblem von Beck’s-Bier und, kaum noch sichtbar, ein paar Striche und einige Zahlen.
Warneke traut sich nicht zu fragen, was das genau in dem Beutel ist. Er nickt den Polizisten zum Abschied zu, scheucht seinen Hund auf und macht sich auf den Heimweg.
Eine knappe Woche später kann Warneke seinen Dackel darüber informieren, was – oder besser, wen – er im Wald entdeckt hat.
»Da, Wurzel, schau her. Fein hast du das gemacht. Du hast den Rosenberg gefunden.« Er hält dem Hund den Weser-Kurier vor die Augen und tätschelt ihm den Kopf. In der Zeitung steht, dass die Identifizierung über die zum Teil noch vorhandene Kleidung und durch das Zahnschema erfolgte. Warneke ist froh, dass er das Gesicht des Toten – oder besser, das, was davon noch übrig war – nicht gesehen hat.
9. August 2010, Bremen
»Peter, du hast doch eine Kopie des Briefes gemacht, oder nicht?«, Hölzle blickte Dahnken, der ihm gegenüber saß, fragend an.
»Brief? Was für ’n Brief?« Peter Dahnken war noch nicht ganz wach am frühen Montagmorgen. Hölzle zog eine Grimasse und fuchtelte mit den Armen.
»Na hallo, der Brief von der jungen Uhlenbruck. Saskia. Stegmanns Tochter. Der Brief von ihrem Vater. Sie hat ihn dir doch vorbeigebracht.«
»Ach so, den. Ja klar. Wieso?« Dahnken rieb sich die Augen, aber die Müdigkeit wollte nicht verschwinden.
»Weil ich jetzt weiß, wer diese Tante ist, die Stegmann darin erwähnt. Dreimal darfst du raten«, verkündete Hölzle voll Enthusiasmus.
»Verschon mich mit Rätseln. Sag schon.«
»Irene Stolze! Was sagst du jetzt?« Hölzle stand auf, ging zu seiner Musikbox und tippte auf eine Taste. Wenige Augenblicke später ertönten die Flippers – ›Du bist ein ungelöstes Rätsel‹.
Dahnken fuhr sich stöhnend durch seine blonden Haare. »Muss das sein? Das ertrag ich jetzt echt nicht.« Er schnappte sich die Thermoskanne, die auf Hölzles Schreibtisch stand, und schenkte sich den starken Kaffee in eine Tasse.
Hölzle hatte Erbarmen und stellte die Musik wieder ab. Er hielt seinem Kollegen eine leere Tasse hin. Peter kam der stummen Aufforderung nach und füllte Hölzles Tasse.
»Stolze. Ist das nicht die mit dem Mondenscheinladen im Viertel?«, fragte er.
»Prima. Dein Hirn scheint seine Arbeit wieder aufzunehmen. Und in ihrem ehemaligen Elternhaus wurde Rosenberg festgehalten.
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