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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Das ist also ein Rotkehlchen?«
    »Genau. Aber du kennst wohl kaum den Unterschied zwischen dem da und einer Rotdrossel, oder?«
    »Stimmt.« Harry hielt sich die Hand über die Augen. Wurde er langsam kurzsichtig?
    »Das ist bei uns ein seltener Vogel, das Rotkehlchen«, sagte Ellen und drehte den Verschluss wieder auf ihre Thermoskanne.
    »Aha«, sagte Harry.
    »Neunzig Prozent von denen ziehen im Winter nach Süden und nur einige wenige gehen sozusagen das Risiko ein, hier zu bleiben.« »Soso.«
    Es knackte wieder im Funkgerät.
    »Posten 62 ans HQ: Zweihundert Meter vor der Abfahrt nach Lørenskog steht ein unbekanntes Auto neben der Straße.«
    Eine tiefe Stimme mit Bergener Dialekt antwortete aus dem Hauptquartier:
    »Einen Augenblick, 62, das überprüfen wir.«
    Stille.
    »Habt ihr die Toiletten überprüft?«, fragte Harry und nickte in Richtung der Essotankstelle.
    »Ja, die Tankstelle ist geräumt, Kunden und Angestellte sind weg. Nur der Chef ist noch da. Den haben wir im Büro eingeschlossen.« »Die Kassenhäuschen auch?«
    »Alles überprüft, beruhig dich, Harry. Alles ist streng nach Liste abgecheckt. Tja, die wenigen, die hier bleiben, hoffen auf einen milden Winter, verstehst du? Das kann gut gehen, aber wenn ihre Rechnung nicht aufgeht, sterben sie. Du fragst dich jetzt bestimmt,warum sie dann nicht mit den anderen nach Süden ziehen. Ob die, die hier bleiben, einfach faul sind.«
    Harry blickte in den Rückspiegel und sah die Wachen zu beiden Seiten der Eisenbahnbrücke. Sie waren schwarz gekleidet, trugen Helme und hatten eine MP5-Maschinenpistole um den Hals hängen. Sogar von hier aus konnte er erkennen, wie angespannt ihre Körper waren.
    »Die Sache ist, wenn es ein milder Winter wird, können sie die besten Brutplätze belegen, ehe die anderen wieder zurückkommen«, sagte Ellen und versuchte, die Thermoskanne wieder in das überfüllte Handschuhfach zurückzuschieben. »Das ist ein kalkuliertes Risiko, verstehst du? Du machst den Big Deal oder gibst den Löffel ab. Das Wagnis eingehen oder nicht. Wenn du es tust, fällst du vielleicht irgendwann nachts steif gefroren von einem Ast und taust erst im nächsten Frühjahr wieder auf. Traust du dich aber nicht, kriegst du womöglich keinen Platz mehr ab, wenn du zurückkommst. Das ist das ewige Dilemma, das man immer mit sich rumträgt.«
    »Du hast doch deine schusssichere Weste an, oder?« Harry wandte sich kurz zu Ellen um und sah sie an.
    Ellen antwortete nicht, sondern starrte nach vorn auf die Autobahn, während sie langsam den Kopf schüttelte.
    »Hast du oder hast du nicht?«
    Sie klopfte als Antwort mit ihren Knöcheln auf ihre Brust. »Die leichte?«
    Sie nickte.
    »Verdammt, Ellen! Ich hab doch den Befehl gegeben, Bleiwesten anzuziehen, nicht dieses Micky-Maus-Zeug!«
    »Weißt du, was diese Secret-Service-Leute tragen?«
    »Lass mich raten. Leichte Westen?«
    »Genau.«
    »Und weißt du, was mir scheißegal ist?«
    »Lass mich raten. Der Secret Service?«
    »Genau.«
    Sie lachte und auch Harry musste lächeln. Es knackte wieder im Funk.
    »HQ an Posten 62. Der Secret Service sagt, dass es ein Auto von ihnen ist, das an der Abfahrt nach L ø renskog steht.«
    »Posten 62, verstanden.«
    »Da siehst du es wieder«, sagte Harry und schlug ärgerlich mit der Hand aufs Lenkrad. »Keine Kommunikation. Diese Amis machen doch immer ihr eigenes Ding. Was hat dieses Auto da oben zu schaffen, ohne dass wir es wissen, häh?«
    »Soll wohl überprüfen, ob wir unseren Job richtig machen«, vermutete Ellen.
    »Wie sie es uns aufgetragen haben.«
    »Du hast in jedem Fall das Recht, ein wenig mitzubestimmen, also beklag dich nicht«, sagte sie, »und hör endlich mit diesem Getrommel auf.«
    Harry legte seine Finger gehorsam in seinen Schoß. Sie lächelte. Er atmete in einem langen Seufzer aus:
    »Jajaja.«
    Seine Finger fanden den Schaft seiner Dienstwaffe, einer 38er Smith & Wesson mit sechs Schuss. Im Gürtel hatte er zwei weitere Magazine mit je sechs Schuss. Er tätschelte seinen Revolver in dem sicheren Wissen, dass er zurzeit streng genommen gar nicht befugt war, eine Waffe zu tragen. Vielleicht wurde er wirklich kurzsichtig, denn nach dem vierzigstündigen Kurs im letzten Winter war er durch die Schießprüfung gefallen. Auch wenn so etwas öfter vorkam, war es doch das erste Mal, dass das Harry widerfahren war, und es gefiel ihm ganz und gar nicht. Eigentlich hätte er die Prüfung bloß wiederholen müssen; er war nicht der Einzige, der

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