Rubinrotes Herz, eisblaue See
Felsen aus. Dann setzte ich mich darauf, zog die Knie an die Brust und redete mit meiner Mutter. Ich flehte sie nicht mehr an, nach Hause zu kommen, denn das lag nicht in meiner Hand. Stattdessen erzählte ich ihr, was in meinem Leben so passierte. Nichts Aufregendes, nur ganz alltägliche Dinge. »Grand geht’s jetzt wieder besser. Sie ist nicht mehr so müde. Ich hab immer noch kein Date gehabt. Ich vermisse dich. Ich wünschte, du wärst hier.« Falls irgendjemand hörte, wie ich mit den Steinen, den Bäumen und den Tieren redete, die gerade in Hörweite waren, hielt er mich wahrscheinlich für verrückt, aber das war mir egal. Manchmal vergrub ich auch kleine Dinge, die mal Carlie gehört hatten, auf der Lichtung. Ein altes Nagellackfläschchen, Stoffstücke, einen Lippenstift oder ein Päckchen Kaugummi, das ich in der Tasche einer ihrer Shorts gefunden hatte.
Eines Tages Ende Oktober, als der süßsaure Duft von kalten Äpfeln in der Luft hing, kam ich von Carlies Lichtung zurück und sah vom Waldrand oben bei den Cheeks, dass Daddy Sachen auf den Pick-up lud. Stella war mal wieder dabei zu renovieren. Das Haus brauchte ein neues Dach, und sie hatte es geschafft, Daddy dazu zu überreden, es zu isolieren, damit man die beiden Zimmer oben auch im Winter benutzen konnte. Deshalb wollte sie den Krempel aus den Zimmern loswerden.
Grand hatte mich vorgewarnt, damit es keine Überraschungen gab. »Dein Zimmer rührt sie nicht an, Florine, und sie wirft nur Sachen weg, die wirklich Müll sind. Sie möchte sich dort oben ein Nähzimmer einrichten, und das andere Zimmer wird ein Lagerraum. Sie hat mir gesagt, du kannst rübergehen und schauen, ob irgendwas dabei ist, was du haben willst.«
Ich ließ es bleiben. Ich war vor Carlies Verschwinden ein paarmal dort oben gewesen und wusste, dass da nichts Brauchbares war. Zwei kaputte Kommoden mit alten Klamotten voller Mäusedreck. Ein Schrank mit Omakleidern von Hattie Butts, Kartons mit alten Schallplatten, ein paar Zeitschriftenstapel und noch mehr Mäusedreck. Von mir aus konnte Stella alles haben.
Trotz des Hähnchen-Fiaskos sprachen Daddy und ich wieder miteinander. Er hatte die Teller am Tag danach abgewaschen zurückgebracht, während ich am Küchentisch saß und in einem Readers Digest blätterte.
»Ich wünschte, ihr zwei würdet Frieden schließen«, sagte er und stellte die Teller auf den Tisch.
»Das wird nicht passieren«, sagte ich.
»Sam ist krank. Fährst du morgen mit mir raus?«
Das tat ich, und damit war der Streit begraben.
Als er mich an dem Oktobertag aus dem Wald kommen sah, sagte er: »Morgen, Florine.«
Die Ladefläche des Pick-ups war vollgepackt mit den beiden Kommoden und dem Schrank. »Du hast ja schon alles rausgeräumt«, sagte ich.
»Ja, das meiste.«
»Ich wird mal ein paar Blumenzwiebeln pflanzen«, sagte ich. Kurz darauf hockte ich bei Grand im Garten und vergrub Narzissen- und Tulpenzwiebeln. Das machte ich jedes Jahr, immer an anderen Stellen. Grand ließ sich gern überraschen, wo sie im Frühling sprossen. Plötzlich hörte ich, wie die Sturmtür von Daddys Haus zuschlug, und als ich aufschaute, sah ich, wie Stella sich auf die Stufen vor dem Haus plumpsen ließ. Sie starrte einen Moment rüber zum Hafen, dann stand sie auf und taumelte durch die Einfahrt, als hätte sie drei Tage durchgesoffen. Ihr Gesicht war weiß wie gesiebtes Mehl, abgesehen von der Narbe. Als sie mich bemerkte, schlug sie die Hände vors Gesicht und blieb mit bebenden Schultern stehen.
»Grand«, brüllte ich. »Mit Stella stimmt was nicht.«
Grand kam in den Garten. »Um Himmels willen, was ist denn los?« Sie ging zu Stella, und als sie den Arm um sie legte, warf Stella sich schluchzend an ihre Brust. Grand löste sich sanft von ihr und führte sie zurück in Daddys Haus. Ich wartete eine Weile, doch sie kam nicht wieder heraus, also machte ich mir allein etwas zu essen. Etwa eine Stunde später, als ich in meinem Schaukelstuhl auf der Veranda saß und zum Hafen hinübersah, kam Grand zurück.
Schwerfällig ließ sie sich in ihren Schaukelstuhl sinken.
»Alles in Ordnung mit Stella?«, fragte ich.
»Nein.«
»Was ist passiert? Hat Daddy ihr den Laufpass gegeben?«
»Ich wird’s dir sagen, und du wirst dich schämen für deine gemeine Bemerkung. Sie hatte eine Fehlgeburt.«
»Oh.«
»Genau - oh. Du solltest ein bisschen aufpassen, was du sagst.«
»Tue ich ja«, grummelte ich. »Jedenfalls meistens.« Wir schaukelten ein wenig vor uns
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