093 - Das Hotel der lebenden Leichen
»Haben Sie das gehört, John?« keuchte er.
Da war es wieder. Diesmal nur noch lauter. Gleichzeitig donnerte ein gewaltiger Brecher über das Vorschiff. Stöhnend legte sich die Betsy Ann auf die Seite. Es schien, als hätte sie nicht mehr die Kraft, sich aufzurichten.
Das Schiff machte keine Fahrt mehr.
»Wir sitzen fest«, murmelte der Kapitän tonlos. »Jetzt kann uns nur noch der Satan helfen.«
Kaum hatte er die Worte zu Ende gesprochen, als sich mit einem ohrenbetäubenden Bersten das Heck senkte. Die Betsy Ann brach auseinander.
Kapitän Hurst wurde von einem gewaltigen Druck gegen die Speigatt geworfen.
»Boot klar machen«, stöhnte er.
Der Sturm hatte seinen Höhepunkt überschritten. Er schien mit seinem Werk zufrieden und orgelte jetzt nur noch leise jaulend über die im unnatürlich schrägen Winkel hängenden Aufbauten der Betsy Ann.
Kapitän Hurst und Steuermann Mallory kämpften sich über das Deck zur höherstehenden Backbordseite hinauf, wo die übrigen sieben Männer der Crew schon das größte der Rettungsboote in die kochende See herabließen. Donnernd schossen ungeheure Wassermassen heran und warfen es gegen die Bordwand der Betsy Ann. Trotzdem gelang es den erfahrenen Seeleuten, das Boot von dem Wrack zu lösen.
Steuermann John Mallory war einundvierzig Jahre alt. Er hatte eine schlanke, mittelgroße Gestalt und scharf geschnittene, intelligente Gesichtszüge.
»Wie ist das passiert, John, was meinen Sie?« murmelte Kapitän Hurst.
»Der Sturm, Kapitän. Ein Sturm, der uns bald zu Neptun geschickt hätte.«
»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß die Betsy Ann nicht aufgelaufen ist, heh? Aufgelaufen an einer Stelle, wo sie nach der Seekarte tausend Fuß Wasser unter dem Kiel haben mußte.«
»Ja, allerdings. Wir sind aufgelaufen«, murmelte Mallory betreten.
Dieselben Gedanken, die auch den Kapitän bewegten, wühlten nun auch in seinem Hirn.
Keiner im Boot sprach mehr ein Wort. Die Männer in ihren nassen Kleidern froren erbärmlich. Wild klapperten ihre Zähne aufeinander.
Noch umgab sie tiefe Finsternis, doch ein heller Streifen am Horizont zeigte an, daß der neue Tag heraufdämmerte.
Nie war ihnen ein Sonnenaufgang so merkwürdig erschienen.
Kalt und milchig stieg die sonst wärmespendende runde Scheibe aus der jetzt fast spiegelglatten See.
Mit lautem Gebrüll machte einer der Männer sich bemerkbar. Sein Arm wies auf einen dunklen Punkt an der Steuerbordseite.
Kapitän Hurst setzte das Fernglas an die Augen.
»Nanu«, murmelte er, »was ist denn das?«
Hastig setzte er das Glas ab, um sich die Augen zu reiben. Noch einmal starrte er in die Richtung.
»Was ist es, Kapitän?« fragte der Steuermann neugierig.
»Da, sehen Sie selbst.«
Mit verkniffenen Augen starrte nun auch Steuermann Mallory durch das Glas. Ein schwarzgrauer Streifen lag flach und dunkel backbord vom Boot.
»Also doch Land, wahrscheinlich eine Insel«, murmelte er.
»Und?« fragte der Kapitän rasch. »Wie kommt die hierher?«
»Das möchte ich allerdings auch wissen«, murmelte John Mallory dumpf und kratzte sich den Schädel.
Immerhin, es war festes Land, das da vor ihnen lag. Hart legten sich die Seeleute in die Riemen und das Boot nahm Kurs auf die Insel.
Eine leichte Sache war das nicht. Die Brandung stürzte sich über das Boot und ließ es hin und her tanzen. Wellenbrecher ergossen sich wie ein Sprühregen über die Männer und durchnäßten sie bis auf die Haut. Sie wurden herumgewirbelt, gegeneinander geschleudert und schluckten Mengen von Wasser.
Plötzlich befanden sie sich in ruhigem Wasser und kamen wieder zu sich.
Schließlich konnten sie das Boot auf den Strand einer sandigen Bucht schieben, die von niedrigen Hügeln umgeben war.
Die Seeleute wußten nicht, ob ihre Erschöpfung größer war oder ihre Dankbarkeit. Auf jeden Fall waren sie beides.
Sie sanken in den Sand und blieben erst einmal regungslos liegen. Nur der Kapitän und John Mallory blieben stehen und blickten sich um. Beiden kroch ein unbehagliches Gefühl den Rücken hinauf.
Nie zuvor in ihrem Leben hatten sie einen so öden, so trostlosen Flecken Erde erblickt.
Der Kapitän fror plötzlich, zog seine Schuhe aus, lief auf dem Sand hin und her und bearbeitete Brust und Rücken mit den Fäusten, um sich zu erwärmen.
»Ich werde mich mal umsehen«, rief Steuermann Mallory ihm zu und begann, den nächstliegenden Berg zu erklimmen.
Er fiel einige Male zwischen den Felsblöcken hin oder mußte von einem
Weitere Kostenlose Bücher