Rubinrotes Herz, eisblaue See
hatte feines blondes Haar und fast farblose Augen, wie Wasser auf Sand. Und sie hatte immer noch ihre Milchzähne. Sie bewegte sich nicht in unserer Welt, aber sie war lieb. Außerdem hätte Dottie jeden umgebracht, der es wagte, Rose etwas anzutun. Eins musste man meiner Freundin Dottie lassen: Sie war verdammt anständig, und sie war stark.
Von Klasse zu Klasse fiel Rose das Lernen schwerer. Jeder Lehrer fand jemanden, der ihr half, aber letztes Jahr war sie nur eben so mit durchgekommen. Es hieß, wenn sie es dieses Jahr nicht schaffte, würde sie mit den Zurückgebliebenen nach Long Reach fahren müssen.
Ich sagte Mrs. Richmond, dass ich Rose helfen würde, und am Anfang lief auch alles ganz gut. Während der Mathestunde verließen wir das Klassenzimmer und setzten uns in einen kleinen, kahlen Raum mit zwei nebeneinanderstehenden Tischen und einem hohen Fenster. Ich zeigte Rose, was zu tun war, dann lehnte ich mich zurück und sah zu, wie sie mit ihren schmutzigen, abgekauten Fingernägeln an den Zahlen einer Reihe entlangfuhr, dann zur nächsten wanderte und überlegte, wie es nun weitergehen sollte.
»Genau wie auf der rechten Seite«, sagte ich. »Eins plus eins plus acht macht zehn, was gehört also hier unten hin?« Sie kicherte und riet: »Neun?« Dann sagte sie: »Florine. Du hast einen so hübschen Namen. Wie eine Blume.«
»Du hast auf jeden Fall den Namen einer Blume«, erwiderte ich. »Aber das wird dir bei der nächsten Mathearbeit nicht helfen. Du musst aufpassen. Versuch’s noch mal.« Am Ende der Dreiviertelstunde war ich jedes Mal erschöpft und Rose immer noch fröhlich und dumm.
Frustriert berichtete ich Dottie davon. Da sie meine beste Freundin war und angesichts der schwierigen Situation, in der ich mich befand, hoffte ich auf ein bisschen Mitgefühl. Doch als ich verkündete, Rose Mathe beibringen zu wollen, sei pure Zeitverschwendung, sagte Dottie: »Nicht jeder schafft alles mit links. Ich bin auch nicht so helle. Ich bin bloß klug genug, mir jeden Abend von Madeline helfen zu lassen, sonst säße ich nämlich auch bei dir und Rose.«
»Sie popelt in der Nase und isst das Zeug dann«, fügte ich als Ekelfaktor hinzu.
»Vielleicht kriegt sie zu Hause kein Frühstück«, sagte Dottie, und ich begriff, dass es zwecklos war.
An dem Tag, als ich anfing, gemein zu Rose zu sein, hatte ich zu Hause einen Streit mit Daddy. Er war bis zwei Uhr morgens aufgeblieben, hatte Wodka getrunken und immer wieder mit Parker telefoniert. Als er dann ins Bett stolperte, hörte ich ihn weinen. Ich wollte zu ihm gehen, aber ich wusste, er würde mich wieder ins Bett schicken. Selbst nachdem seine Schluchzer in Schnarchen übergegangen waren, lag ich noch bis vier Uhr wach. Ich musste um sechs aufstehen, aber Daddy und ich verschliefen beide. Ich wachte gegen halb sieben auf, sprang aus dem Bett und zog mir in Windeseile die Sachen über, die ich am Tag davor schon getragen hatte.
»Daddy«, rief ich, »Daddy, du musst aufstehen.« Ich hörte ihn grunzen und fluchen, während ich mir hastig das Gesicht wusch und die Zähne putzte. Ich schnappte mir einen Apfel und rannte zur Bushaltestelle, doch der Bus war schon weg.
Daddy hing gerade über dem Klo und übergab sich, als ich wieder ins Haus kam. »Ich hab den Bus verpasst«, rief ich über sein Gewürge hinweg.
»Mist«, schnaufte er, dann ging es wieder los. Schließlich rauschte die Klospülung, und er kam aus dem Bad und wischte sich das Gesicht mit einem kleinen Handtuch ab, das Grand für ihn und Carlie bestickt hatte. Ich konnte das L und das C in der einen Ecke erkennen. »Warum bleibst du nicht einfach zu Hause?«, fragte er.
»Du hast gesagt, wir müssen weitermachen.«
»Ich bin jetzt nicht in der Stimmung, mir von dir anzuhören, was ich gesagt habe, Florine.«
»Du solltest nicht trinken, und du solltest nicht so lange aufbleiben.«
»Nun, wenn du klug genug bist, mir zu sagen, was ich nicht tun sollte, meinst du nicht, dass du dann auch klug genug bist, alleine aufzustehen, zu frühstücken, dir ein verdammtes Brot zu schmieren und rechtzeitig zum Bus zu gehen?«
»Du hast geweint. Ich konnte nicht schlafen.«
»Entschuldige, dass ich hier wohne.«
»Du brauchst mich nicht auszuschimpfen.«
»Ich schimpfe dich nicht aus.«
»Tust du wohl.«
»Nein, tu ich nicht, verdammt noch mal.«
»Bringst du mich jetzt hin, oder was?«
»Red nicht so mit mir. Es heißt: >Daddy, kannst du mich bitte zur Schule bringen?<«
»DADDY, KANNST
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