Rubinrotes Herz, eisblaue See
ging zu ihr. Ich sprach sanft auf sie ein, wie Carlie oder Grand es taten, wenn ich mich fürchtete oder mir wehgetan hatte.
Schließlich gelang es mir, sie zu beruhigen und ein bisschen zu säubern, aber die Mathestunde war für den Tag vorbei. Hand in Hand gingen wir zum Klassenzimmer zurück, immer noch leise schniefend. Als Mrs. Richmond uns sah, ging sie mit uns raus auf den Flur.
»Was ist passiert?«, fragte sie mich.
Rose sagte: »Florine hat nichts gemacht. Mir geht es einfach nicht gut.«
Mir ging es auch nicht gut, und es ging mir noch schlechter, als Dottie später in der Pause auf mich zukam und sich drohend vor mir aufbaute.
»Du hast Rose gesagt, sie war dumm?«, fragte sie. Ich musterte meine Schuhspitzen. Doch ein Gefühl von Ungerechtigkeit hatte sich in mir breitgemacht, und ich erwiderte trotzig: »Sie ist dumm. Das ist einfach eine Tatsache.«
»Du blöde Scheißkuh.« Dottie drehte sich um und marschierte davon. Ich sah ihr sprachlos nach.
11
An dem Abend schaffte Daddy einen neuen Saufrekord mit einer Flasche Wodka. Als ich aus der Schule kam, hatte er bereits die Hälfte intus, und er schwankte, als er für uns beide eine Dose Bohnen warm machte. Kurz vor dem Essen rief Grand an, und er sagte zu ihr: »Oh, alles bessens, Ma. Wir komm’ schon klar. Kein Problem. Muss Schluss machen. Die Bohn’ brenn’ an.« Er legte auf und kratzte die dunkle Masse aus dem Topf. Ich starrte die angebrannten Bohnen auf meinem Teller an und brach in Tränen aus. Daddy sagte nichts, sondern nahm nur seine Wodkaflasche und verschwand im Wohnzimmer. Der Sessel ächzte, als er sich mit seinem ganzen Gewicht hineinfallen ließ. Ich warf mein Essen in den Mülleimer und lief hinüber zu Grand.
»Daddy ist betrunken«, sagte ich. »Zum Abendessen hat er mir angebrannte Bohnen vorgesetzt.«
Grand schürzte die Lippen. Dann wärmte sie mir eine Portion Makkaroni auf, und ich durfte vor dem Fernseher essen, während sie danebensaß und strickte. Ihre Nadeln wurden mit der Zeit immer schneller. Ihr sonst so schönes altes Gesicht war in zornige Falten gelegt. »Bist du böse auf Daddy?«, fragte ich. »Es ist schwer, auf ihn böse zu sein, wo es ihm so schlecht geht«, sagte sie. »Aber auch nicht leicht, Geduld mit ihm zu haben. Jesus prüft uns manchmal auf unvorhersehbare Weise.«
»Ich glaube, Daddy interessiert sich überhaupt nicht für Jesus«, sagte ich. »Und für mich auch nicht.«
»Er ist ganz weit unten, Florine«, sagte Grand. »Er versucht zu verstehen, was passiert ist. Mir gefällt zwar die Art und Weise nicht, wie er das tut, aber bevor er wieder ins Licht und zu Jesus’ Liebe zurückfinden kann, muss er mit dem Teufel ringen.«
Ich hatte mir den Teufel zwar immer rot vorgestellt, mit einer Mistgabel in der Hand, wie auf der Dose von Deviled Ham, aber vielleicht war, zumindest für Daddy, der Teufel ja auch eine scharfe, klare Flüssigkeit.
»Was ist mit mir?«, fragte ich. »Er hat gesagt, wir müssen weitermachen. Und ich geb mir Mühe.«
»Ich weiß.« Grands Nadeln blitzten. »Wahrscheinlich macht Jesus es den Jüngeren leichter.«
Beinahe hätte ich die Makkaroni auf den Beistelltisch vor mir gespuckt. Ich liebte Grand, aber wenn sie glaubte, das, was Jesus mir zumutete, wäre leicht, dann konnte der Kerl mir gestohlen bleiben.
Die Haustür ging auf, und Daddy rief: »Ma, hassu Florine gesehen?«
»Sie ist hier«, rief Grand zurück. Daddy kam herein und lehnte sich gegen den Türrahmen. Sein Blick wanderte zwischen Grand und mir hin und her.
»Verdammt noch mal, Ma«, sagte er zu Grand, »hör auf, dich dauernd einzumisch’n. Florine und ich, wir komm’ schon klar.«
Dann fing er an zu weinen, und ich auch. Grand legte ihr Strickzeug weg, nahm meinen Teller und sagte: »In die Küche, alle beide.«
»Ich kann nich mehr, Ma«, schluchzte Daddy und sank auf einen Stuhl. »Ich wird noch wahnsinnig.«
»Wir müssen aber weitermachen«, schniefte ich. »Hast du selbst gesagt.«
»Wer hat dir denn den Miss erzählt?«, sagte Daddy. »Muss ‘n Idiot gewesen sein. Jeden verdammten Tag geh’n mir hunnert schlimme Sachen durch den Kopf, die Carlie vielleicht zugestoßen sind. Kann an nichts anderes denken. Kann nichts anderes tun. Außer trinken.«
»Das verstehe ich ja«, sagte Grand. »Aber du musst einen Fuß vor den anderen setzen. Ich bin stolz auf euch beide, weil ihr so tapfer seid.«
»Was soll’n wir denn auch sonss machen?«, sagte Daddy.
Noch bevor Grand
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