Rubinrotes Herz, eisblaue See
toll?«
»Ja«, sagte ich. Eine Möwe landete vor uns, legte den weißen Kopf schief und musterte uns mit ihrem gelben Auge. Carlie verscheuchte sie.
Wir gingen zu einer Ansammlung von Felsen und setzten uns auf einen flachen schwarzen, der gerade groß genug für uns beide war. Wir betrachteten eine Weile Carlies Horizont, dann sagte sie mit verträumter Stimme: »Als ich klein war, stellte ich mir vorm Einschlafen immer vor, ich könnte fliegen. Ich flog an alle möglichen Orte, landete und sah mich um, ob ich dort jemanden kannte. Dann, als ich älter war, fuhr ich hierher, und da war dein Vater, der auf mich zukam, die Sonne hinter seinem Kopf wie ein Heiligenschein. Blaue Augen, strahlendes Lächeln, breite Schultern, groß und kräftig, und da habe ich mir gesagt: >Das ist er, Carlie. Hier bleibst du.< Er ist ein guter Mann, Florine. Einer der besten, denen ich je begegnet bin.« Sie hielt inne und sah mich an. »Woran denkst du, bevor du einschläfst?«
»Ich weiß nicht.«
»Nein, natürlich nicht. Du bist wie dein Vater. Und das ist gut so.« Sie tätschelte meinen Arm, und ich zuckte zusammen. »Ach herrje«, sagte sie. »Schätzchen, du hast einen Sonnenbrand. Wir müssen zurück und dir was überziehen. Und dann fahren wir nach Hause, einverstanden?«
Patty und Schiefzahn-Mike hüpften in den Wellen herum. Als sie uns sahen, winkten sie und liefen zur Decke zurück.
Patty bespritzte mich mit kalten Tropfen. »Willst du noch mal rein?«
»Sie hat einen Sonnenbrand«, sagte Carlie. »Ich fahr mit ihr nach Hause.«
Mike lüpfte den Träger an Carlies Schulter und fuhr mit dem Finger über die Linie zwischen roter und weißer Haut. »Du hast auch einen.«
»Lass das«, fuhr Carlie ihn an.
Mike wich zurück. »Ich kenn die Regeln nicht, Carlie. Du musst sie mir sagen.« Mit gesenktem Kopf schlurfte er zu den Felsen, von denen wir gerade kamen.
»Wir reden später weiter«, sagte Carlie zu Patty, die ausgestreckt auf der Decke lag, ein Bein angewinkelt, und Mike nachsah. Dann nahmen wir unsere Sachen und gingen.
Auf dem Heimweg schwiegen wir beide, und wir schalteten auch nicht das Radio ein. Ungefähr auf halbem Weg nach Long Reach sah ich, wie ein Junge in meinem Alter sich an einem Tau, das am Ast eines großen Baums befestigt war, über einen See schwang. Als er über dem Wasser war, ließ er das Tau los. Seine weite orangerote Badehose flatterte, und er zappelte wie wild mit den Beinen, als wollte er wieder zurück. Vielleicht landete er nie im Wasser. Wir waren an ihm vorbei, bevor ich es sehen konnte.
2
Das mit dem Feuer war so: Wir bauten Mist, und wir wurden erwischt. An dem Abend, als die ganze Sache anfing, hatten Dad und Carlie mal wieder ihren üblichen Streit, wie in letzter Zeit öfter. Während ich in meinem Zimmer auf Dottie, Glen und Bud wartete, verfolgte ich das Hin und Her. Unser Haus war klein, sodass ich von meinem Zimmer aus fast alles hören konnte, was im Elternschlafzimmer gesprochen wurde. Das Problem war, dass Daddy, der ruhende Anker der Familie, es hasste, irgendwohin zu fahren, während Carlie, die Rastlose, das Reisen liebte. Sie und Patty fuhren einmal im Jahr ein Stück die Küste hinauf, aber sie wollte, dass Daddy mit uns als Familie verreiste.
Daddy sagte: »Warum versuchst du immer wieder, mich zu ändern?«
»Weil wir jeden verdammten Tag dasselbe tun. Aufstehen, essen, arbeiten, essen, schlafen und wieder aufstehen. Lass uns doch mal was tun, was wir noch nie getan haben. Irgendwohin fahren, wo wir noch nie gewesen sind.«
»Ich tue gar nicht jeden Tag dasselbe«, wandte Daddy ein.
»Stimmt. Dienstags und donnerstags trägst du ein anderes Hemd. Hör mal, Schatz, es muss ja nichts Teures sein, und ich habe ein bisschen Trinkgeld gespart.«
»Ich muss das Haus streichen. Und das von Ma auch. Und ich muss das Holz reinholen. Jetzt ist der falsche Zeitpunkt. Wir fahren nächsten Sommer, versprochen. Irgendwie kriegen wir das schon hin.«
»Ach, Leeman, es wird immer der falsche Zeitpunkt sein. Warum tun wir’s nicht einfach?«
Ein lautes Klopfen an meiner Zimmerwand ließ mich zusammenzucken. Ich wartete einen Moment ab, ob meine Eltern es gehört hatten. Doch sie redeten weiter, und so schob ich das Fliegengitter hoch und schwang mich aus dem Fenster. Glen, der von uns vieren bisher am größten war, reckte sich und zog das Gitter wieder herunter, damit keine Mücken ins Zimmer kamen.
»Los, gehen wir«, sagte Bud. Wir schlichen über den
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