Rubinrotes Herz, eisblaue See
Mutter nicht liebt«, sagte Stella. »Willst du, dass er einsam ist?«
»Lieber einsam als mit dir.«
Stellas Narbe verfärbte sich dunkelrot. »Ich möchte, dass wir Freunde sind.«
»Warum? Das wolltest du doch früher nicht.«
Mit ihrer Stiefelspitze hob sie ein wenig Schnee auf und schüttelte ihn dann wieder ab. »Frohes neues Jahr, Florine«, sagte sie noch einmal. »Bis bald.« Damit wandte sie sich um und ging die Straße hinunter. Sie wackelte mit dem Hintern wie eine Katze, die von der Sahne genascht hat. Und nicht nur davon.
»Und kochen kannst du auch nicht«, brüllte ich, obwohl wir beide wussten, dass das nicht stimmte. Wütend stapfte ich in Grands Haus und knallte die Tür hinter mir zu.
Grand trug gerade die rote Glaskaraffe von der Vitrine in die Küche. »Meine Güte, Florine, musst du denn so einen Krach machen?«
»Stella hat die Nacht bei Daddy verbracht«, rief ich.
»Immer mit der Ruhe. Setz dich, und ich stelle erst mal die Karaffe weg, bevor sie noch kaputtgeht.«
Stocksteif setzte ich mich aufs Sofa. Meine Knie zitterten vor Erregung. Wie konnte sie nur? Wie konnte er nur? Daddy hatte Carlie und mich wegen einer mageren, narbengesichtigen Schlampe verlassen. Am liebsten hätte ich sie alle beide umgebracht.
»Gib mir deinen Mantel«, sagte Grand. Ich schälte mich heraus, und sie hängte ihn an einen Haken im Flur. Dann setzte sie sich zu mir.
»Also, was ist passiert?«, fragte sie.
»Ich war gerade auf dem Weg hierher, und da hab ich gesehen, wie Stella aus unserem Haus kam. Sie hat gesagt, sie war die Nacht über bei Daddy. Sie haben es getan, Grand, ich weiß es ganz genau.«
»Was haben sie getan? Oh. Ach, du lieber Himmel.«
»Das können sie nicht machen, Grand. Daddy ist mit Carlie verheiratet.«
»Ist ja gut, ist ja gut«, sagte Grand. »Jetzt beruhige dich erst mal ein bisschen.«
Ich versuchte es, aber dann schlugen meine Fäuste auf meine Oberschenkel, als wollten sie sie platt klopfen, und ich brüllte: »Ich will sie nicht bei Daddy haben. Wie konnte er Carlie und mir das antun?«
Grand hielt meine Hände fest und sagte: »Ich weiß es nicht, Kleines. Ich nehme an, er ist ziemlich durcheinander.«
»Rede mit Daddy. Sag ihm, dass er das nicht machen kann. Sag ihm, dass Jesus was dagegen hat.«
»Florine, so etwas tue ich nicht. Ich würde niemals Jesus benutzen, um jemandem zu drohen.«
Ich entzog ihr meine Hände und stand auf. Ich lief auf und ab, ich brauchte irgendeine Beschäftigung. Dann fiel mir wieder ein, weshalb ich gekommen war. Ich ging zur Vitrine, nahm das Herz vom mittleren Regal und steuerte damit auf die Küche zu.
»Nicht heute, Florine«, sagte Grand. »Du bist zu aufgebracht. Du könntest etwas kaputt machen, und dann würden wir uns beide schlecht fühlen.«
»Dein blödes Glas ist also wichtiger als ich?«, schrie ich. Ich rannte aus dem Haus, über die Straße und den Weg hinauf, der aus unserem Garten zu den Cheeks führte. Ich kletterte über die Felsen und watete durch kniehohen Schnee in den Wald. Allein in der kalten Verlassenheit des Naturschutzgebiets, stapfte ich auf die Klippen zu. Ein schneidender Wind wehte mir vom Meer entgegen. Die alten Kiefern bogen sich ächzend, nach Luft ringend wie ein verletzter Elch, als ich mich an ihnen vorbeikämpfte. Mir war kalt, aber ich wollte ums Verrecken nicht umkehren, um meinen Mantel zu holen. Ich rutschte auf einer vereisten Stelle aus, fiel auf den Bauch, und das kleine Herz glitt mir aus der Hand. Fluchend suchte ich im Schnee danach, fand es und drückte es an mich. Schließlich kam ich zu der Stelle, wo das Meer unablässig mit einem rasselnden Fauchen gegen die steilen Granitfelsen donnerte. Die Gischt bedeckte mein Gesicht mit eisigen Küssen.
Ich schrie all meinen Zorn, meine Trauer und meinen Schmerz hinaus in die Winterhölle aus tobendem Wasser und peitschendem Wind. »MUTTER«, brüllte ich, »komm zurück! SOFORT!«
Doch das Meer und die Felsen führten ungerührt ihren eisigen Kampf fort. In meiner Verzweiflung rief ich: »Hier!
Jetzt gib sie mir zurück!«, und warf das rubinrote Herz in die eisblaue See. Ich schwöre, kurz bevor es auf die Wasseroberfläche traf und verschwand, sah ich einen Funken aufsprühen.
Und dann war Carlie bei mir. Von Kopf bis Fuß umfing mich wohlige Wärme, als meine Mutter mich in die Arme schloss. Ich roch ihr Parfüm und drückte meine Nase in ihr Haar. Da waren wir, ganz für uns allein in einem kleinen leuchtenden Kreis aus
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