Rubinrotes Herz, eisblaue See
wir noch eine Weile so sitzen. Als wir Schritte näher kommen hörten, zog er seinen Arm zurück und stand auf. Madeline steckte ihren Kopf durch die Tür.
»Hallo, ihr zwei«, sagte sie mit kieksender Stimme. »Ich dachte, du wärst gegangen, Bud, und du wärst im Bett, Florine.«
»Bin so gut wie weg«, sagte Bud. »Wir haben nur ein bisschen geredet.«
Ich fragte mich, wie Madeline ihm das glauben sollte, da meine Augen geschwollen waren wie Tischtennisbälle, aber sie sagte nichts, sondern trudelte herein und umarmte Bud schwungvoll.
»Frohes neues Jahr«, sagte sie und gab ihm einen dicken Schmatzer auf die Wange. »Dann schlaf mal gut, Buddy.« Er ging hinaus, und als ich aufstand, hüllte sie mich sanft in ihre Arme und führte mich zurück zu Dotties Zimmer, wo ich statt Schafen die Schnarcher zählte.
15
Am Neujahrstag wurden Dottie und ich gegen neun Uhr wach. Wir standen auf und schoben die Bierflaschen beiseite, damit wir uns und Evie Frühstück machen konnten. Evies schwarze Locken tanzten im trüben Winterlicht, während sie ihre Cornflakes aß. In ihrem kleinen, herzförmigen Gesicht leuchteten rosige Wangen und tiefrote Lippen. Aus ihr würde mal eine Schönheit werden, was man von Dottie und mir nicht behaupten konnte. Ich mit meinem langweiligen Durchschnittsgesicht und Dottie mit ihrer Bretterbudenfigur. Was würde aus uns werden?, fragte ich mich plötzlich.
»Wie wär’s mit einem Zeichentrickfilm?«, fragte Dottie.
»Nein«, sagte ich. »Heute ist Rotes-Glas-Tag.«
Jedes Jahr am ersten Januar putzten Grand und ich das rubinrote Glasgeschirr, und sie erzählte mir dabei die Geschichte ihrer Mutter Emma, die als Waisenkind in Boston aufgewachsen war und für ein paar Penny auf der Straße getanzt hatte. Irgendwie war sie von dort zu Verwandten nach Spruce Point verschifft worden. Sie heiratete Harold Morse, der fünfundzwanzig Jahre älter war als sie. Er zog mit ihr nach The Point, und Emma bekam vier Kinder, wovon drei bei einer Grippeepidemie starben. Grand kam erst nach der Epidemie zur Welt. Als sie sechs war, starb ihr Vater im Alter von sechzig Jahren an seinem Geiz.
Harold ließ Emma mittellos zurück, und so beschloss sie, das Haus zu verkaufen, in die Stadt zu ziehen und sich Arbeit als Haushälterin zu suchen. Doch eines Tages, als Grand unter dem Bett ihrer Eltern Verstecken spielte, bemerkte sie ein Stück grünes Papier, das aus einem kleinen Riss an der Unterseite der Matratze hervorschaute. Sie zog eine ganze Handvoll davon heraus und zeigte es ihrer Mutter, weil sie es hübsch fand.
Wie sich herausstellte, hatte Harold die Matratze mit Zehnern, Zwanzigern und auch etlichen Fünfzigdollarscheinen gefüllt, die Emma sofort zu einer Bank in Long Reach brachte. Harold war Fischer gewesen, und nur der Teufel wusste, woher er das viele Geld hatte, sagte Grand, aber das war nicht wichtig. Es hatte ausgereicht, um Emma und Grand ein komfortables Leben zu ermöglichen, bis Grand zwölf Jahre später Franklin Gilham heiratete. Emma hatte bis zu ihrem Tod bei ihnen gelebt.
Grand hatte die Sparsamkeit ihres Vaters geerbt und sich ebenfalls ein kleines Polster geschaffen, um sicher zu sein, dass sie bis ins hohe Alter über die Runden kam. Sie brauchte nicht mehr als das, was sie besaß. Sie hatte ihre Lieblingsdinge um sich, und sie hatte ihren Garten. Ich freute mich schon wieder auf den Sommer, wenn ich meine Nase in ihre Pfingstrosen stecken konnte, um den Duft bis in mein Herz zu saugen. Genau daran dachte ich auf dem Weg von Dottie zu Grand, als ich plötzlich Stella mit ihrem Schmortopf unsere verschneite Einfahrt runterkommen sah.
Als sie mich erblickte, wurde ihr Gesicht so rot wie die Pfingstrose, die ich mir gerade vorgestellt hatte. »Frohes neues Jahr, Florine«, sagte sie. »Hast du dich bei Dottie gut amüsiert?«
Ich konterte sofort. »Und du, hast du dich bei Daddy gut amüsiert?«
Sie drückte den Topf mit der einen Hand gegen ihren grünen Wollmantel, während sie mit der anderen den Kragen gegen den kalten Januarwind hochschlug. »Es war ein sehr schöner Abend«, sagte sie und sah mir dabei direkt in die Augen.
»Bist du über Nacht geblieben?«
Sie holte tief Luft und stieß eine frostige Atemwolke aus. »Ja, bin ich.«
»Daddy ist ein verheirateter Mann«, sagte ich mit vor Empörung bebender Stimme.
»Aber er ist auch ein einsamer Mann, Florine. Nur weil er mal eine Nacht nicht allein sein wollte, heißt das noch lange nicht, dass er deine
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