Rudernde Hunde
die Zwillinge viel unterschiedlicher gewesen seien, als man annehmen konnte und wollte. Das habe er sehr bald gespürt.
Harro sei der harte, der ehrgeizige, der besessene Sportler gewesen, der Hasso, den introvertierten, ständig verliebten, Bücher lesenden, Gedichte schreibenden Träumer mitriß, immer wieder, von Erfolg zu Erfolg. Hasso habe mitgemacht, weil er in einem anderen Leben keinen Sinn gesehen hätte. Und Disziplin hatten sie bei ihrem alten Herrn zur Genüge gelernt.
»Man hätte sie spätestens mit neunzehn trennen müssen. Doch das war unmöglich. Harro mit einem anderen Partner - ich hatte einen, Kamphausen, fuhr im Einer ganz
passabel -, die beiden hätte auf der ganzen Welt niemand geschlagen. Hätte, hätte, wäre, wäre, was solls.«
Was in westdeutschen Vereinsbroschüren mit »ruhte der Spielbetrieb« umschrieben wird, erstand plastisch vor mir. Siege, Niederlagen, Ehrungen, der Händedruck des Führers, Orden, Auszeichnungen, die Olympiade 36, die große Zeit - er erzählte begeistert davon und strahlte. Der in der DDR hochdekorierte Mann schwärmte von der großen Zeit im nationalsozialistischen Deutschland. Und als er mir ein Bild zeigte, auf dem ihm der Führer die Hand drückt, hatte er Tränen in den Augen.
Die Zeit verging schnell. Inzwischen war auch Suhrbiers Frau nach Hause gekommen, aber sie zog sich nach kurzer Begrüßung zurück, als müßte sie vor den Geschichten, die da wiederer-standen, fliehen.
Ich hatte nicht mehr viel Zeit. Ich mußte, so die Anweisung, heute noch den Boden der Deutschen Demokratischen Republik verlassen, den letzten Zug nehmen. Und ich hatte doch noch so viele Fragen.
»Leben die Zwillinge noch - wissen Sie etwas über sie?«
Er kramte eine Ansichtskarte mit dem Kölner Dom hervor und las:
»Lieber Herr Suhrbier - leben jetzt in Köln - große Familie - feiern im Mai fünfzigsten - werden Sie leider nicht kommen können -
schade - haben Sie nicht vergessen - Harro und Hasso, Ihre Hunde. Die Karte ist 65 gekommen, über den Verein. Ich hab dann später von einem Journalisten in Berlin gehört, die beiden hätten in Köln ein Geschäft, Glas, Spiegel, Rahmen, so was.«
Wunderbar, eine neue Spur, ich würde sie also kennenlernen.
Gleich morgen, nahm ich mir vor, würde ich einen Sportjournalisten in Köln anrufen. Das wird eine Geschichte werden! Zwillinge! Ost-West. Nazizeit! Ich sah die Geschichte gedruckt vor mir - vielleicht ein Buch -, mal sehen.
»Mehr hab ich nicht gehört. Na ja, man lebt in einer anderen Welt, vorbei die Zeit.«
»Die beiden haben Sie gesiezt damals - Sie waren doch gerade fünf Jahre auseinander?«
»Jaja, aber ich war der Chef.« :
Ich mußte mich verabschieden, meine Zeit war um.
»So, ich muß los. Mit den Grenzbehörden ist nicht zu spaßen. Es war sehr interessant - und ich danke Ihnen.«
Wir standen auf.
»Sie wollten mir noch was zeigen - wegen der Hunde.«
»Ach ja!«
Er verschwand kurz und kam dann mit einer kleinen Bronzeplastik wieder zurück. In einem etwa zehn Zentimeter langen Boot saßen zwei weiß-braune Hunde - denen da draußen im Hof sehr ähnlich - und ruderten. Verbissen, ernst, besessen sahen sie aus.
»Sehen Sie, das hat mir meine Frau aus Ungarn mitgebracht. Sie hat es nach einem Foto unserer Hunde machen lassen.«
»Das ist ja wunderbar!«
Er reichte mir dieses Geschenk seiner Frau. Ich schaute es noch einige Zeit an und fragte mich, was sich ein Mensch dabei gedacht hat, seine Söhne nach seinen Lieblingshunden zu nennen. Hasso und Harro, da saßen sie im Boot, ich vermute einmal, Harro hinten, um Hasso die Schlagzahl in den Nacken zu schreien und ihn anzutreiben, ihn, der eigentlich Gedichte schreiben wollte.
Dann ging ich. Suhrbier stand am Gartentor, beruhigte die Hunde und winkte.
»Und grüßen Sie die beiden, wenn Sie sie sehen!« rief er.
Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich, daß seine Frau, die mich nicht verabschiedet hatte, aus dem Haus gekommen war und heftig auf ihn einredete.
Auf die beiden Briefe, die ich kurz danach schrieb, antwortete er nicht.
»Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«
In den vielen Spiegeln sah ich mehrfach, zum Teil von Facettenschliffen zerstückelt, einen grauhaarigen Mann in grauem Kittel. Ich drehte mich um, und vor mir stand, ein Bein nach vorne gesetzt, von vorne nach hinten wippend, einer der beiden Krachtzwillinge. Ich hatte immer wieder die Fotos von damals angesehen, an das gedacht, was Suhrbier zum Unterschied zwischen den
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