Rudernde Hunde
interessierte mich einfach für nichts, hatte keinen Ehrgeiz, keine Ziele, keine Perspektiven. Ich hatte keine Vorstellung von meiner Zukunft. Aber das war mir egal. Irgendwas würde schon werden. Das einzige, was ich konnte, worin ich gute Noten hatte, war Sport. Um an den langweiligen Nachmittagen und Wochenenden nicht zu Hause herumsitzen zu müssen, ging ich zu den Wasserfreunden e.V. von 1900, einem Ruderclub. Ich ruderte mit einem Hünen von einem Menschen in einem Zweier ohne, starrte stundenlang in sein pickeliges Genick, hörte seine Befehle und ruderte schlecht und recht, ohne wirklich Spaß daran zu haben, auch hier ohne Ehrgeiz. Da ich trainingsfaul war, suchte sich der Hüne bald einen anderen Partner. Auch im Einer kam ich auf keinen grünen Zweig. Das war etwa um die Zeit, da sie mir an der Schule das Reifezeugnis gaben, vermutlich nur, weil mein Vater einflußreich im Stadtrat saß. Dank des ärztlichen Gutachtens eines Parteifreundes meines Vaters mußte ich wegen eines angeblich irreparablen Rückenleidens nicht zur Bundeswehr. So gesehen war es gut, daß ich zu der Zeit schon nicht mehr leistungssportlich, sondern nur noch feiernd und trinkend bei den Wasserfreunden tätig war.
Von meinem Vater war bestimmt worden, daß ich Jura studieren sollte, um einmal seine Kanzlei zu übernehmen.
Zweimal in meinem Leben habe ich mich dem Willen meines Vaters, der selbstredend auch der Wille meiner Mutter war, widersetzt. Einmal, indem ich Sport studierte, und zum zweiten Mal bei der Wahl meiner späteren Frau.
Nicht, daß mich das Sportstudium im mindesten interessiert hätte. Ich hatte überhaupt keine Vorstellung davon, was ich damit einmal anfangen würde. Ich wählte es, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben wußte, was ich nicht wollte: in einer Anwaltskanzlei versauern, wie mein Vater werden, in seine Fußstapfen treten.
Eines Tages stand ich vor der Aufgabe, mir ein Thema für eine Diplomarbeit zu suchen. Ich wollte natürlich über das Rudern schreiben, davon hatte ich noch am ehesten eine Ahnung. Und glücklicherweise war ich vor kurzem auf eine interessante Geschichte gestoßen. In einer Zeitung aus der Vorkriegszeit hatte ich von den damals bekannten Ruderzwillingen Harro und Hasso Kracht gelesen, die in den dreißiger Jahren national und international den Zweier ohne beherrschten. Trainingsfleiß, absolute Harmonie, Kampfeswille sollen sie ausgezeichnet haben.
Die Presse überschlug sich damals mit Lob über die Zwillinge, die, wie es hieß, nur von ihren Eltern und ihrem Trainer auseinandergehalten werden konnten. Nie, so stand zu lesen, habe man gewußt, wer von den beiden vorne und wer hinten saß.
Sie sollen das Publikum und die Gegner regelrecht an der Nase herumgeführt haben. Erstaunt hat mich, daß von den beiden nach dem Krieg nie mehr die Rede war. Sie waren 1939 vierundzwanzig Jahre alt, also waren sie vermutlich im Krieg gewesen. Nach dem Krieg war sicher an die Fortsetzung der Karriere nicht zu denken.
Lebten sie noch? Und wenn ja, wo und wie?
Es war Mitte der siebziger Jahre, als ich die Geschichte der Krachtzwillinge recherchierte. Da ich für die Wasserfreunde gerade eine Broschüre zum fünfundsiebzigsten Jubiläum der Vereinsgeschichte zusammenstellen sollte, kniete ich mich in die Sache hinein, saß in Zeitungsarchiven, wälzte Bücher, suchte Wochenschaumaterial, Sportdokumente. In der Jubiläumsbroschüre schrieb ich die lapidare Feststellung: von 1938 bis 1946 ruhte der Sportbetrieb, denn in der Reichskristallnacht vom November 38 wurden sieben jüdische Familien verschleppt, aus denen fast die gesamte Rudermann-schaft rekrutiert war. Mein Vater, stellvertretender Vorsitzender der Wasserfreunde, bat mich, dieses »unappetitliche Kapitel«, wie er sich ausdrückte, ruhen zu lassen. Ich ließ es ruhen, es interessierte mich nicht weiter, denn ich war jetzt auf der Spur der Krachtzwillinge. Die führte nach Leipzig.
Nach langwieriger Korrespondenz mit DDR-Bürokraten war es mir schließlich gelungen, Kontakt zum Verein für Wasserspiele, VfW Torpedo Leipzig aufzunehmen. Von dort erfuhr ich, daß die gesamte Familie Kracht noch vor Gründung der DDR in den kapitalistischen Westen gegangen war, wohin, das konnte oder wollte man mir nicht mitteilen. Allerdings, so schrieb man mir, wäre für mich vielleicht von Interesse, daß Herbert Suhrbier, der damalige Trainer der Krachts, heute Seniorentrainer der Torpedo-Ruderer sei und in Leipzig wohne und sicher sehr viel über
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