Rückkehr nach Kenlyn
der Giganten, auf denen sich nichts bewegte außer Schleiern aus Staub. Das Pflaster war von unten heraus aufgerissen. Nicht nur hier, überall in der Stadt. Yu Nan hatte ihm erklärt, dass Rokor sich vorher im Untergrund ausgebreitet haben musste, unbemerkt von den Hohen Völkern. Bis es zu spät gewesen war. Dann hatte die Plage aus der Tiefe zugeschlagen; war aus dem Boden gequollen wie eine schwarze Flut, in der das Strahlende Zeitalter ertrank.
Yu Nan ...
Er konnte den Umriss jenes Turmes, in dem er seinen Mentor begraben hatte, deutlich erkennen.
Yu Nan war gestorben, keine Woche nachdem sie den geheimen Nexus in Xida-Ma passiert hatten. Mit einem Schritt hatten sie Millionen von Kilometern überquert und sich in einer Nexushalle wieder gefunden, die in der Flanke eines Berges errichtet worden war.
Shannashai, Yu Nans Geburtsstadt und sein Grab, lag etwa fünfzig Kilometer weiter westlich. Zu Beginn ihrer Reise war die Luft noch klar und kalt gewesen, doch dann war aus dem Nichts ein Sturm aufgezogen. Kai wusste bis heute nicht, wie er es heil und sicher durch das Unwetter geschafft hatte. Als sie in der Stadt angekommen waren und er einen Unterschlupf für sie gefunden hatte, öffnete er den Zeitlosen Sarkophag.
»Wir sind da, Meis... Yu Nan!« Sein Mentor mochte es nicht, wenn er ihn mit »Meister« ansprach – auch wenn Kai das Wort nie untertänig gebrauchte, sondern als Titel, der früher großen Philosophen und Dichtern gegeben wurde.
Yu Nan hatte sich in den Trümmern seiner Stadt umgesehen und Kai war klar geworden, welche Qualen ihm der Anblick bereitete. Der uralte Sha Yang hatte geweint – um sich, sein Volk und seine Welt. Er hatte gesagt, wie sehr er sich schäme, Kai mit in diesen Alptraum gezerrt zu haben. Kai hatte nur gelächelt und ihm versichert, dass er ihm dies schuldig war, während ein dicker Kloß in seinem Hals saß.
Es war nie geplant gewesen, dass er hier strandete. Wenn alles gelaufen wäre, wie sie es sich vorgestellt hatten, dann hätte Kai mit Hilfe von Yu Nans Armschiene das Tor nach Te’Ra geöffnet, seinen Mentor nach Shannashai begleitet und wäre kurz danach durch den immer noch offenen Nexus nach Hause zurückgekehrt. Aber das Auftauchen der Schattenschiffe hatte diese Pläne zunichte gemacht.
Nun war er die einzige Seele auf dieser Welt, und Kai ertappte sich immer häufiger bei dem Gedanken, ob es richtig gewesen war, Yu Nan seinen letzten Wunsch zu erfüllen und hierher zu bringen, damit er in Frieden sterben konnte. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er nur an sich gedacht hätte. Dann wäre er jetzt Zuhause auf Kenlyn. Zusammen mit Endriel.
Er konnte kaum glauben, wie zuversichtlich er damals gewesen war, als er Endriel die Armschiene gegeben hatte. Er hätte nie gedacht, dass ihn die Einsamkeit derart quälen würde. Dass sie wie ein kaltes Messer war, das jemand in seiner Brust umdrehte. Dass es Tage gab, an denen er vor seiner eigenen Stimme erschrak, die so fremd und winzig klang auf diesem Planeten. Manchmal, wenn ihn die Stürme in seinen Turm einsperrten und ihr Heulen ihn verhöhnte, war die Verlockung groß, einfach über das Geländer zu springen – zuzusehen, wie Stockwerk um Stockwerk an ihm vorbei flog, während er auf den Aufprall wartete. Er hatte sich mehr als einmal gefragt, ob er im Fallen sein Spiegelbild in den zersplitterten Fenstern sehen würde.
Kai rang nach Atem. Er hob den Blick zum schwarzen Horizont und sah im Licht der Blitze die Türme der anderen, namenlosen Stadt im Norden glitzern. Wie oft hatte er daran gedacht, dorthin zu gehen. Vielleicht würde er dort neue Vorräte finden oder vielleicht eine Landbarke, mit der er diesen Kontinent auskundschaften konnte. Vielleicht sogar ein Drachenschiff – oder eines der Sternenfahrzeuge mit denen die Sha Yang damals hierher gekommen waren. Dann wäre er gerettet. Dann könnte er zurück nach Kenlyn, zurück nach Hause, zurück zu Endriel und den anderen.
Dennoch hatte er Shannashai niemals verlassen. Denn größer als die Hoffnung, war seine Angst, Endriel zu verpassen, wenn sie kam, um ihn zu holen. Er wusste, dass sie zuerst hier nach ihm suchen würde. Nein, er musste hier bleiben. Und warten. Warten. Warten.
Kai schrie. Er schrie in die Nacht hinein, bis ihm die Kehle brannte. Er bemerkte kaum, wie sich der Sturm legte und schließlich den Versuch aufgab, ihn vom Dach zu reißen. Kai wischte die winzigen Rinnsale aus Schlamm fort, welche die Tränen auf seiner staubigen
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