Ruegen Ranen Rachedurst
So?“
„ Es gibt keine Sicherheit, so wie es keine Gerechtigkeit gibt.“
„ Wenn ich diesen Fall hier betrachte“, er tippte mit dem Finger auf das MacBook, „dann trifft beides leider zu“.
Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Aber in der nächsten Zeit braucht dich das nicht weiter zu bekümmern.“
„ Wieso?“
„ Auf Rügen machen selbst die Mörder Pause und spannen aus. Wusstest du das nicht? Du kannst deinen Rechner also getrost zugeklappt lassen.“
„ Was das betrifft, bin ich ein Workaholic, Lydia. Das weißt du doch.“
„ Allerdings!“, seufzte sie theatralisch.
***
Ein kühler Wind pfiff vom Meer her und riss an den Kleidern des Reporters von ,rügencampus‘, dem regionalen, privaten Fernsehsender der Insel. „Ich befinde mich hier vor den zwei berühmten Leuchttürmen am Kap Arkona“, sprach er mit sonorer Stimme in ein Mikrofon und lächelte trotz der widrigen Windverhältnisse tapfer in die Kamera. „Und ich möchte doch einmal der Frage nachgehen, inwiefern die Touristen die Wirtschaftskrise spüren. Also, um es vorwegzunehmen, die Menschen, mit denen ich bisher sprach, gaben überwiegend an, von der Krise persönlich zwar noch nicht betroffen zu sein, aber trotzdem den Euro etwas öfter umzudrehen, bevor sie ihn ausgeben.“
Der Reporter machte jetzt einen Schritt auf eine Spaziergängerin in einer hellblauen Windjacke zu, die die Szenerie schon seit geraumer Zeit beobachtet hatte, dabei aber immer darauf bedacht war, nicht ins Sichtfeld der Kamera zu geraten.
Doch jetzt schwenkte der Kameramann plötzlich sein Objektiv in ihre Richtung, während der Moderator der Frau das Mikrophon unter die Nase hielt.
Sie war eine Mittdreißigerin mit dunkelrotem Haar. Der modische Kurzhaarschnitt stand ihr gut, obwohl ihr Gesicht doch streng und etwas verhärmt wirkte. Linien, die für ihr Alter eigentlich eine deutliche Spur zu hart waren, hatten sich in ihre Gesichtszüge eingeprägt. Linien, die wohl das Leben selbst mit unerbittlichen Pinselstrichen gezogen haben musste. Ein hartes Schicksal, eine große Enttäuschung, ein ungerechtes Geschick, das sie getroffen hatte – irgendetwas in dieser Art musste ihr widerfahren sein. Ihre Gesichtszüge standen in einem so krassen Gegensatz zu dem eher sonnyboyartigen Wesen des Moderators, dass dieser für den Bruchteil einer Sekunde stutzte, als er ihr das Mikrophon entgegenhielt und ihr dabei zum ersten Mal in die Augen sah. Offenbar war er zu sehr auf die Abwicklung seiner Sendung konzentriert gewesen, nur darauf fokussiert, die Bilder und den O-Ton in den Kasten zu bekommen, als dass ihm das eigenartige Flackern in ihrem Blick vorher aufgefallen wäre.
Aber jetzt war es zu spät. Er konnte das Mikrofon nicht mehr zurückziehen, sondern musste nun hoffen, dass alles gut über die Bühne ging.
Das Beste daraus machen, dafür war er als Moderator eines Lokalsenders ja eigentlich Spezialist, denn ohne Improvisation ging trotz aller Professionalität normalerweise gar nichts.
„ Sie machen hier auf Rügen Urlaub. Wie ist denn …?“
Die Rothaarige ließ den Reporter nicht einmal die Anmoderation beenden, sondern fiel ihm gleich ins Wort.
„ Was ich von der Krise halte, soll ich Ihnen das wirklich mal sagen? Kann ja sein, dass den Schickimicki-Urlaubern die Krise nichts ausmacht. Die hatten ja ihre Schäfchen auch längst im Trockenen, als die Pleitewelle losging. Aber haben Sie eine Ahnung, wie es denen geht, die um ihr Geld gebracht wurden? Von denen finden Sie hier auf Rügen vielleicht nicht so viele, aber …“
„ Ja, das mag schon …“, versuchte der Moderator die Hoheit über das Gespräch wiederzuerlangen. Aber er war der Rothaarigen einfach nicht gewachsen. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Schon was die Sprechgeschwindigkeit anging, kam er bei ihr einfach nicht mit. Inzwischen hatte sich ein ganzer Pulk von Urlaubern um den Moderator und sein Team gebildet. Ein paar neugierige Kinder mit ihren Eltern waren ebenso darunter wie eine Gruppe junger Mountainbiker. Einige Frauen im Rentenalter, die allesamt T-Shirts mit dem Schriftzug des Kegelklubs ,Die Pumpenwerfer e.V. 08 Wattenscheid‘ trugen und sich offenbar bei einem Spaziergang zum Kap Arkona ertüchtigen wollten, umringten kopfschüttelnd die Filmcrew. Was sich jetzt hier abspielte, das war aufregender als jedes Wettkegeln, das diese rüstigen Damen schon bestritten haben mochten.
Der Moderator sandte bereits einen hilfesuchenden Blick zum Kameramann.
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