Ruf der Daemmerung
in die ein kleiner Fluss mündete. Das Inselchen lag in ihrer Mitte und das Ufer ringsum war flach, aber dicht bewachsen. Viola blickte Alistair nach, doch dann entzogen ihn erste Abendnebel endgültig ihrer Sicht. Es musste später sein, als sie gedacht hatte ...
Viola spähte verunsichert auf den See hinaus, wie Alistair es getan hatte, bevor er sich so plötzlich zum Gehen entschlossen hatte. Oder halt, hatte er die Blicke nicht auch schon vorher, während ihrer Unterhaltung, immer wieder beiläufig über die stille Oberfläche des Sees schweifen lassen? Beiläufig oder wachsam? Irgendetwas schien ihn jedenfalls letztlich erschreckt zu haben.
Und dann sah sie, halb verdeckt von der Insel am anderen Ende der Bucht, ein Pferd, das über dem Strand zu schweben schien. Ein milchweißes Pferd, nicht der Graue von neulich. Es stand still und blickte zu der Insel - oder zu Viola? - hinüber, bis es mit den jetzt schnell aufsteigenden Nebeln verschmolz. Viola wollte schon gehen, aber dann bellte Guinness und sie hörte gedämpften Hufschlag. Ein anderes Pferd trabte vom Wald zum See und wurde eins mit dem Nebel. Ein graues Pferd ...
Viola zwinkerte. Sie musste sich das einbilden. Sicher gab es keine Verbindung zwischen dem seltsamen Jungen und dem silbernen Pferd. Es konnte keine geben.
Am Abend googelte sie erst mal den Begriff »Viola d'Amore« und wurde zu ihrer Überraschung fündig: ein historisches Streichinstrument, verwandt mit der Bratsche, aber heller und silbriger im Klang. Woher wusste das ein Junge aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert?
Viola beschloss, ihren Vater zu bitten, am nächsten Samstag wirklich mit ihr in die Stadt zu fahren. Oder sie fragte Shawna, ob sie Lust zu einem Einkaufsbummel in Dublin hatte. Auf jeden Fall musste sie hier mal raus. Sie war offensichtlich auf dem besten Weg, verrückt zu werden.
4
Shawna fand die Idee eines Ausflugs in die Stadt hervorragend, und sie wusste auch, wie man problemlos und ohne die Einbeziehung von Eltern oder sonstiger Führerscheininhaber nach Dublin kam. »Es gibt einen Bus, er fährt alle zwei Stunden. Hält zwar an jeder Ecke, aber wir haben ja Zeit«, erklärte sie Viola. »Mit deinem Dad ging's natürlich schneller, aber willst du riskieren, dass Ainné wieder Wehen kriegt, wenn wir mitten im schönsten Einkaufen sind? Sie hat dir jetzt schon zwei Ausflüge mit deinem Vater vermasselt, langsam kriegt's Methode.«
Viola fragte sich, warum das allen Leuten in ihrer Umgebung sonnenklar war, abgesehen von ihrem Dad. Der war nach wie vor äußerst besorgt um seine junge Frau und brach sofort jede Unternehmung ab, wenn Ainné ihn rief. Bei Erwachsenen hätte Viola eine solch blinde Verliebtheit nie für möglich gehalten.
Jedenfalls starteten sie und Shawna am nächsten Wochenende gleich um halb neun und waren dann gegen Mittag in Dublin. Shawna verzichtete sogar darauf, vorher beim Füttern von Bills Ponys zu helfen. »Ich muss sie sonst noch rausbringen und dann schaffen wir's womöglich nicht«, erklärte sie und wirkte dabei gar nicht traurig.
Der Ausflug schien sie zu beflügeln - sie hatte sich auch hübsch gemacht. Viola sah sie zum ersten Mal leicht geschminkt und in einem langen Jeansrock, der sie sehr mädchenhaft wirken ließ. Als wäre sie einem von Miss O'Keefes Liedern entstiegen. Viola machte ihr ein Kompliment und riet ihr, sich auch mal für Patrick so zu stylen.
Shawna wurde sofort rot. »Aber ich kann doch nicht so zum Füttern kommen ...«
Viola verdrehte die Augen. Dann aber nutzte sie den Themenwechsel, um Shawna von ihrer erneuten Sichtung des grauen Pferdes zu erzählen, und berichtete auch von dem milchweißen. »Aber es war schon letzten Samstag«, schränkte sie ein, als Shawna aufgeregt guckte. Nicht, dass sie sich im letzten Moment doch noch entschloss, auf Pferdefang zu gehen, statt in den Bus nach Dublin zu steigen! »Und ziemlich weit weg, bei der kleinen Insel, du weißt schon, mit dem alten Sommerhaus. Seitdem sind sie nicht wieder aufgetaucht.«
Und Alistair auch nicht, was ein bisschen an Violas Nerven zerrte. Aber davon erzählte sie Shawna lieber nichts. Wenn sie ehrlich sein sollte, hatte sie die zweite Begegnung mit dem Jungen sogar Katja verschwiegen ...
Shawna nickte. »Wahrscheinlich waren es letztes Mal auch zwei Pferde, du hast das weiße bloß nicht gesehen. Jedenfalls müssen sie wild leben. Wenn sie irgendwo ausgerissen sind, dann nicht hier in der Nähe. Ich muss sie unbedingt mal sehen und
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