Ruf der Daemmerung
besonders nahe kam, musste sie zugeben, dass die neue Frau ihres Vaters hübsch war. Sie hatte dichtes, glattes rotes Haar, nicht die Kräusellöckchen, die Viola erwartet hatte, und auch nicht die karottenrote Färbung, die ihre Mom stets beschworen hatte, wenn sie sich ihre Rivalin vorstellte. Ainnés Haarfarbe spielte eher ins Kupferne oder Rotgoldene und ihre Augen waren leuchtend blau. Die Sommersprossen hielten sich in Grenzen, ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig und ihre Lippen voll und schön geschwungen, wenn auch gerade etwas unwillig zusammengezogen. Ainné war sicher schlank gewesen, als Dad sie kennenlernte, aber jetzt in der Schwangerschaft wirkte ihre Figur etwas unförmig. Dennoch bewegte sie sich recht graziös. Viola erinnerte sich daran, dass Dad von ihrer Sportlichkeit geschwärmt hatte: »Eine schneidige Reiterin!« Es hatte bewundernd geklungen, war für Viola und ihre Mutter aber nur ein weiteres Indiz seiner geistigen Verwirrung gewesen. Alan McNamara hasste Pferde, und das Letzte, mit dem man ihm bisher hatte imponieren können, war »schneidiges« Reiten.
»Ich hol dann mal deine Koffer«, bemerkte Patrick zu Viola und zog sich zurück. Er hatte auf die Neckerei ihres Vaters mit seinem charakteristischen Grinsen reagiert, schien Ainné allerdings nicht sonderlich zu mögen. Vielleicht nahm er ihr aber auch nur übel, dass sie sich nicht mal den kleinsten Gruß für ihn abgerungen hatte. Allerdings war für Viola selbst bislang auch kein »Good Afternoon« abgefallen. Ainné schien es nicht für nötig zu halten, Freude über die Ankunft ihrer Stieftochter zu heucheln.
Viola folgte ihrem Dad und seiner Frau zunächst in einen Flur und dann in eine große Küche, die ins Wohnzimmer überging. Das Haus wirkte von innen nicht geräumiger als von außen. Abgesehen von Küche und Wohnraum, die sicher von Bill, Ainné und Dad gemeinsam genutzt wurden, gab es nur ein Bad und drei Schlafzimmer. Eins davon würde Viola jetzt beziehen, später sollte das Baby dort schlafen. Ainné hätte es sicher gern jetzt schon als Kinderzimmer eingerichtet.
Immerhin hieß sie ihre Stieftochter nun in ihrem Haus willkommen, nachdem sie in einem Sessel am Kamin Platz genommen hatte.
»Machst du uns einen Tee, Dear?«, fragte sie sanft in Richtung von Violas Vater, der daraufhin sofort aufsprang und in die Küche eilte. »Und vielleicht möchtest du dich auch nützlich machen, Viola ...« Es klang, als habe sich Viola bislang als aufsässig und arbeitsscheu erwiesen. »In dem Schrank da sind Tassen und sicher finden sich im Laden ein paar Scones ...«
Viola war froh, in den Laden entfliehen zu können, und gratulierte sich dazu, Patrick vorhin beim Einräumen geholfen zu haben. So fand sie die Teekuchen sofort und brachte auch Butter und Marmelade mit.
Dafür, dass es Ainné eben noch so schlecht gegangen war, griff sie jetzt ganz schön herzhaft zu. Viola dagegen nippte nur an ihrem Tee. In Ainnés Gegenwart fühlte sie sich befangen. Ihr Dad versuchte, das Eis zu brechen, indem er sie nach der Schule und Katja befragte. »Und du ziehst Computerspiele immer noch allen anderen Aktivitäten vor?«, erkundigte er sich augenzwinkernd. »Oder hast du dich jetzt doch in ein Pferd verliebt? Manchmal mache ich mir da Sorgen um dich, du scheinst diese Phase einfach zu überspringen.«
Viola verdrehte die Augen. Sie hatte von jeher ein Faible für Fantasyromane und Rollenspiele, während sie jede Form von Sport verabscheute. Erst recht, wenn daran Tiere beteiligt waren, die vorn bissen und hinten ausschlugen.
Immerhin war die Neckerei ein guter Aufhänger dafür, ihr wichtigstes Anliegen vorzubringen. »Ich würde nachher gern ins Internet gehen«, bemerkte sie.
Daddy und Ainné runzelten gleichermaßen die Stirn - Daddy augenzwinkernd, Ainné missbilligend.
»Computerspiele ...«, murmelte sie indigniert. »Mädchen, du lebst jetzt in einer der schönsten, märchenhaftesten Landschaften der Welt ... Du kannst reiten, Boot fahren, wandern ...«
»Und Vögel beobachten, ich hab's schon gehört.« Viola beschloss, dass sie lange genug höflich gewesen war. »Kann ich mir mein Zimmer wohl mal angucken, Daddy?«
Viola stand entschlossen auf, bevor Ainné sie auch noch zum Geschirrspülen verdonnerte. An sich machte es ihr nichts aus, im Haushalt zu helfen, aber sie hatte den Verdacht, dass Ainné sie bald genauso behandeln würde wie ihr Vater Shawna, wenn sie hier nicht gleich Grenzen zog.
Das Zimmer im ersten Stock
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