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Das graue distinguierte Leichentuch: Roman

Titel: Das graue distinguierte Leichentuch: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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    Bei Gelegenheit – Wieso nicht jetzt?
    Es war sein erster Morgen auf dem Bahnsteig von Sword’s Point, und Dave Robbins sah sich interessiert um. Am Himmel zogen winterliche, wagnerianische Wolken dahin, kahle schwarze Bäume vibrierten wie dumpfe Akkorde über den Hügeln des Villenorts. Es war ein düsterer Morgen, von geheimnisvoller Melancholie umschattet. Er hatte etwas entschieden Russisches an sich. Diesen Gedanken aber schob Dave rasch beiseite und sah sich die Leute an, mit denen er auf der Fahrt nach New York die Sitzplätze teilen würde.
    Sie unterschieden sich nicht sonderlich von den Leuten, in deren Gesellschaft er in den Restaurants östlich der Madison Avenue zu lunchen pflegte, mit denen er sich um die Taxis zankte, sich in Büroaufzügen drängte, bei Firmenbesprechungen scherzhafte Bemerkungen wechselte. Hier aber, wie ein stummes Regiment, das seiner Befehle harrt, umgeben von finsteren Hängen und hohem Himmel, wirkten sie seltsam verwandelt.
    Dave sah nach seiner Uhr. Es war drei Minuten vor acht, und der Bahnsteig begann sich rasch zu füllen. Immer stärker wurde das Gedränge, höfliche Rempelei und der Kehrreim wohlerzogenen ›Entschuldigung‹-Gemurmels. Dave, der sich als Außenseiter fühlte, fügte sich bereitwillig dem Willen der Menge und rückte schüchtern immer näher an den Rand des hölzernen Bahnsteigs. Aus der Ferne war nun ein Rattern zu hören, und ein spitzer Lichtstrahl durchbohrte den dichten Nebel. »Verzeihung – Pardon!« sagte jemand zu ihm, und Dave rückte noch weiter nach vorn: nun ragten seine Schuhspitzen beinahe schon über den Rand hinaus.
    Das Geräusch wurde lauter, eine rhythmische Folge metallischer Rasseltöne. Dave fühlte sich plötzlich unbehaglich. Er preßte sein Köfferchen fest an die Schenkel, als sollte es eine Schutzwehr zwischen ihm und dem heranbrausenden Zug bilden. Die Füße der anderen Leute waren den drohenden Eisenrädern genauso nahe, aber irgend etwas riet ihm, auf der Hut zu sein.
    Das ›etwas‹ behielt recht. Es war, als ob die Menschenmenge von einem jähen Krampf befallen würde, als ob aus ihrer Mitte eine Bewegung hervorbreche, die das heikle Gleichgewicht seiner Stellung umstieß. Er fühlte sich taumeln und schwanken, warf Ellenbogen und Kopf nach hinten und versuchte, wieder festen Fuß zu fassen. Dann merkte er, daß diese Bemühung zu spät kam, und stürzte vornüber auf die Schlacke hinunter.
    Die Menge schnappte nach Luft, aber dieses Erschrecken war eher zu spüren als zu hören. Einen kurzen Moment lang überkam Dave Robbins der hysterisch fatalistische Gedanke, einfach still auf den Schwellen und dem geschwärzten Geröll liegen zu bleiben und den zermalmenden Tod abzuwarten. Dann stach ihn die scharfe Ecke des Köfferchens in den Magen, und der Schmerz brachte ihn zur Besinnung. Er sprang auf, warf sich dem Bahnsteig entgegen, und ein Dutzend hilfreich ausgestreckter Hände zog ihn hoch, während der Zug mit Donnergetöse einfuhr.
    Die Pendler zeigten sich sehr um ihn besorgt. Eine Zeitlang war Dave mehr als nur ein Außenseiter: ein Mitmensch, den man eben vom Rande der Ewigkeit zurückgeholt hatte. Dave strich mit der Hand über seinen Mantel, froh um dessen dicke Wattierung, die ihn vor Schaden bewahrt hatte, und stieg zusammen mit den anderen in den Zug ein.
    Unterwegs war er die Zielscheibe neugieriger Blicke, kümmerte sich aber nicht darum. Dann begann er zu vermuten, es sei nicht nur der Unfall, der ihm dieses Interesse eintrug. Bestimmt hatten sie in ihm einen Eindringling erkannt, einen Wochenendgast, der nun in seine schmutzige, muffige Stadtwohnung zurückkehrte, wo er eigentlich hingehörte. Erstens hatte er keinen Hut. Zweitens trug er sein glattes schwarzes Haar ziemlich lang; er verabscheute den flotten Studentenstil. Und um das Maß vollzumachen, war er der einzige Mensch im Zug, der keine Zeitung in der Hand hielt. Dafür aber ein Buch. Zum erstenmal war er darüber froh – trotz des Titels: Das älteste Zeitalter der Dichtkunst.
    Das Buch war Janeys Idee gewesen. Janey hatte die künstlerische Leitung der Firma Hagerty & Tait, und der Umstand, daß sie mit dem Nachnamen Hagerty hieß, hatte nichts mit ihrer Tüchtigkeit zu tun. Als Dave Robbins seinen ersten Tag in der Werbeagentur verbrachte, hatte er den Namen an ihrer Tür gelesen und vielsagend die Nase gerümpft. Sechs Monate später war er bereits davon überzeugt, daß es falsch von ihm gewesen war, Günstlingswirtschaft zu wittern.

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