Ruge Eugen
wird Alexander mit der Frage beschäftigt sein, wieso an diesem Anlegesteg eigentlich nie jemand anlegt. Als hätte sich, wird er denken, der kleine Ort seinen Beinamen «Puerto» mit diesem Bauwerk ertrotzen wollen. Als habe man gehofft, dadurch die Schiffe des Meeres anlocken zu können.
Oder dich von der Arbeit abholen. Du in Latzhose zwischen kniehohem Grün und wie du dir mit dem Handrücken den Schweiß aus der Stirn wischst.
Oder deine Langsamkeit – habe ich dir das schon gesagt?
Oder wie du die Nase kraus ziehst und «Hm» machst.
Oder dieses verschlagene Aufblitzen in deinen Augen. Oder – darf man so etwas überhaupt sagen? – dein Gesicht, wenn du weinst.
Einen Augenblick wird er versucht sein, das, was er gerade denkt, zu notieren – für den Fall, dass er den Brief einmal tatsächlich schreiben wird. Aber schon der Gang nach dem Schreibzeug, ja, schon Geringeres könnte, so wird er befürchten, seine Stimmung vertreiben.
Ja, es ist tröstlich, so an dich denken zu können, und manchmal frage ich mich: Vielleicht genügt das? Einerseits tut es weh, dass ich, als du greifbar nah warst, so fahrlässig mit alledem umgegangen bin. Andererseits mache ich gerade die seltsame Erfahrung, dass man nicht unbedingt besitzen muss, was man liebt. Einerseits zieht es mich zu dir, um nachzuholen, was ich zu geben versäumt habe. Andererseits fürchte ich, dass ich – nach dem, was mir die Medizin prognostiziert – umso mehr nur der Nehmende wäre. Einerseits möchte ich dir das alles gern schreiben. Andererseits fürchte ich, du wirst es als eine Art Heiratsantrag aufnehmen – und das ist es ja auch.
Wenn er den Kaffee getrunken hat, wird er seine Laufschuhe anziehen und ein paar Kilometer laufen. Er hat sich Laufschuhe in Pochutla gekauft. Anfangs hat er es mit Spaziergängen versucht: wie Kurt – er hat gelacht, als er sich bei diesem Gedanken ertappte, er könne vielleicht operabel werden, wie Kurt, wenn er dessen Lebensstil imitiere. Aber bald stellte sich heraus, dass die Gegend kaum für Spaziergänge geeignet ist. Das Hinterland, das er schon aus dem Taxi gesehen hat, ist kaum verlockend. Einzig der Strand würde zum Spazierengehen einladen, wenn nicht die einzelnen Buchten durch unüberwindliche Felsen voneinander getrennt wären. Man kommt nur auf der Straße von Bucht zu Bucht, und die Straße ist langweilig. Also läuft er.
Er wird – wie immer, so auch an diesem Tag – in nördlicher Richtung die schmale, sich windende Asphaltstraße entlangtraben, wird gelassen die Steigungen angehen, ohne den Puls in die Höhe zu treiben, gerade so, dass er das Gefühl hat, ewig weiterlaufen zu können.
Hin und wieder werden Autos vorbeifahren. Die Leute im Sammeltaxi werden die Köpfe nach ihm verdrehen. Fußgänger gibt es hier selten, und als er in der Ferne zwei Männer auf sich zukommen sieht, wird er sich unwillkürlich fragen, wie er ihnen, falls sie ihn ausrauben wollen, begreiflich macht, dass er nicht mehr als zwanzig Pesos bei sich trägt.
Es sind, wie sich schnell herausstellt, zwei Männer mittleren Alters, sehnige, dunkelhäutige Geschöpfe, die genau so aussehen wie die Arbeiter, die sich vor einigen Tagen vor der Kommunalen Verwaltung von Puerto Angel versammelt haben, um sich über die miserable Qualität des Trinkwassers zu beschweren. Sie werden ihn stumm, aber freundlich grüßen, wie nur Männer Männer zu grüßen imstande sind, und Alexander wird, er weiß nicht mal warum, von ihrem Gruß zu Tränen gerührt sein.
Dann kommt Zipolite in Sicht. Der Kioskbesitzer wird ihm von weitem schon durch übertriebene (und eigentlich vollkommen unverständliche) Gesten signalisieren, dass er das Wasser bereitstellen wird: Mit der Zeit hat Alexander sich angewöhnt, auf dem Rückweg hier Wasser zu kaufen, anstatt mit einer Halbliterflasche in der Hand durch die Gegend zu rennen. Aber zunächst, auf dem Hinweg, wird er noch vor dem Kiosk links abbiegen, zum Meer.
Nach ein paar hundert Metern wird er die Bucht von Zipolite erreichen. Es ist die Hippie-Bucht. Sie ist vielleicht zwei Kilometer lang und, im Gegensatz zur kleineren Bucht von Puerto Angel, wo auch Einheimische baden, fast ausschließlich von jungen, ausländischen Touristen bevölkert, die mit ihren Haartrachten und ihren Kettchen tatsächlich als Hippies durchgehen könnten – wenn sie nicht alle ein bisschen zu wohlgeformt, ein bisschen zu schick wären.
Um diese Zeit liegen sie noch in den Hängematten; sie schlafen
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