Rummelplatz
Direktors, um mit der Durchsicht der Bücher zu beginnen. Mit den anderen beiden ging Nickel ins Zimmer des Betriebsleiters.
Kurz darauf kam ein Instrukteur von der Bezirksleitung der Partei, danach schneite einer herein, der eine verblüffend gelungene Kopie des Bücherrevisors zu sein schien; wie sich zeigte, war er aber der Druckereileiter Müller von der Mitteldeutschen Großdruckerei, kam auch gar nicht der Flucht wegen, sondern wollte persönlich Reklamationen anmahnen, nachdem das schriftlich bereits mehrfach geschehen war. Der Dr. Jungandres wurde geholt, denn das fiel in sein Ressort, |407| aber der Dr. Jungandres wußte nichts von Reklamationen. Druckereileiter Müller, nachdem man ihm erklärt hatte, was vorgefallen war, versprach, noch ein paar Tage zu warten. Der Druckereileiter ging, es kamen der Parteisekretär Benedix und der BGL-Vorsitzende Brüstlein, ferner der Hauptbuchhalter Stein und der Leiter der Abteilung Einkauf-Verkauf Dörner, Hertha Dörners Bruder und der Sohn von Ruth Fischers Maschinenführer. Der Druckereileiter kam noch einmal herein und hinterließ – gegen Quittung – die Durchschläge seiner Reklamationen. Zwei Tage später fanden sich dann auch die Originale in der Ablage des Dr. Kautsky, sie waren, kein Zweifel, bewußt zurückgehalten worden. Als der Druckereileiter Müller zum zweiten Mal gegangen war, konnten sie endlich mit der Sitzung beginnen.
Die Sitzung dauerte bis tief in die Nacht hinein. Sie endete mit der Konstituierung einer provisorischen Betriebsleitung, bestehend aus Dr. Jungandres, dem Hauptbuchhalter Stein, dem Ingenieur Innstetten, der die Stelle des technischen Direktors übernahm, und dem Personalleiter Nickel. Als Betriebsleiter wurde der bisherige Parteisekretär Max Benedix eingesetzt; Nickel sollte vorläufig kommissarisch die Funktion des Parteisekretärs übernehmen.
Kurz vor Mitternacht verließ Nickel den Betrieb – müde, hungrig, und glücklich. Er dachte: Es kann kommen, wie es will, es findet doch alles wieder ins rechte Gleis. Hinter ihm blieben die Geräusche des Werkes zurück, stetig und friedlich wie je zuvor; der Betrieb arbeitete, produzierte, es war beim Ausfall der einen Maschine geblieben, und morgen früh würden sie auch die wieder anfahren. Sicher, es würde schwierig werden, eine harte Zeit stand ihnen bevor. Der Anschlag aber war mißglückt, die Produktion nicht zum Erliegen gekommen, die Katastrophe verhindert. Jeder ist ersetzbar, dachte Nickel, auch ein Betriebsleiter, ein Direktor, ein Werkführer, oder auch alle zusammen und auf einmal. Und in ihm war eine tiefe und ganz persönliche Freude darüber, ein Stolz, daß |408| der Schlag sie so wenig getroffen hatte, daß der Feind auch mit diesen Mitteln so wenig erreichen konnte …
Zur gleichen Zeit verließen auch der Dr. Jungandres und der Ingenieur Innstetten den Betrieb. Jungandres sagte: »Für Sie ist das heute ja auch eine ziemlich radikale Überraschung gewesen.«
»Das kann man wohl sagen«, meinte Innstetten. »Ich habe den Montag nie recht gemocht. Das ist ein Tag, mit Schwierigkeiten gepflastert. Gott sei Dank ist man ja daran gewöhnt, daß es immer anders kommt, als der Plan vorsieht.«
Jungandres lächelte. Und da er annahm, daß der Ingenieur den Schwiegervater seines berühmten Namensvetters wohl kennen würde, sagte er: »Ja, das ist ein weites Feld, wie sich der alte Briest ausdrücken würde.«
Der Ingenieur nickte; auch an derlei war er gewöhnt. Und bevor sie auseinandergingen, sagte er noch: »Und für Sie? Ich meine, wenn man so lange mit diesen Leuten gearbeitet hat, das muß doch ziemlich deprimierend sein?«
»Naja«, sagte Jungandres. »Man steckt eben in keinem drin.« Er hatte das recht gelassen gesagt, und er gab dem Ingenieur zum Abschied genauso gelassen die Hand. Und selbst wenn er weniger gleichmütig gewesen wäre – woher hätte der Ingenieur Innstetten denn ahnen sollen, daß er seine harmlose Frage in aller Unschuld ausgerechnet dem einzigen in diesem Betrieb gestellt hatte, dem die Flucht nicht überraschend gekommen war?
Der Dr. Louis Jungandres war, was die Produktion anging, der wichtigste Mann im Betrieb, war es seit je, wußte es auch seit je. Wenn für den Dr. Kautsky dieser Betrieb schlechthin eine Produktionsstätte war, die irgend etwas Manipulierbares produzierte, das von ihm aus Papier, Gummi oder auch Bleichsoda heißen konnte; wenn er für den technischen Direktor Niemeyer vorwiegend ein branchenübliches
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