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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Arsenal |409| technischer Anlagen darstellte, von der und jener Kapazität und zufällig im Erzgebirge gelegen, genausogut oder besser aber auch etwa in die Mainzer Gegend passend, oder nach Österreich, oder am allerbesten in die deutschsprachige Schweiz; wenn er für den kaufmännischen Direktor Hengstmann schließlich ein Alptraum war, ein gottverlassener Winkel, der weder seinen Fähigkeiten noch gar seinen Ansprüchen entsprach; wenn Bermsthal also für diese drei wahrlich kein Ort war, den man ungern verläßt: für den Dr. Louis Jungandres war es ein solcher. Er hatte die Hälfte seines Lebens hier verbracht, jeden Hebel kannte er und jedes Schräubchen, jeden Mann und jede Maus.
    Der Dr. Jungandres hatte seine eigene Art, die Dinge zu sehen, seine eigene, mit ihnen umzugehen und von ihnen zu sprechen. Er konnte zum Beispiel vom ›Charakter‹ einer Papiermaschine sprechen wie andere vom Charakter einer Frau; nichts von Metapher, nichts von Übertragung, für ihn waren diese Maschinen Lebewesen, lebendige Organismen, jede mit ihren Eigenarten, ihren Vorzügen, ihren Mängeln und Launen. Er war ein geselliger Mensch, der Dr. Jungandres, er liebte den Wein, in Maßen die schönen Künste, war auch dem schönen Geschlecht nicht abhold – aber er konnte alle drei vergessen etwa über der Frage, warum zum Teufel der Deckkarton der fünften Maschine bei längerer Lagerung Blasen warf; konnte tagelang an kleinen Verbesserungen herumtüfteln und sich monatelang in Berechnungen und Experimenten zu irgendeinem neuen Verfahren vergraben, ohne ein einziges Mal aufzuschauen. Ja, er konnte allein sein in der Arbeit, ohne sich darüber einsam zu fühlen – und vielleicht war das überhaupt sein beherrschender, bestimmt jedenfalls sein glücklichster Charakterzug.
    Dabei war er nicht etwa seßhaft oder gar bodenständig. Gewiß, beharrlich war er, aber es war die Beharrlichkeit eines unruhigen Geistes, sie konnte bis zu Versessenheit gehen, und manchmal war er sogar ein bißchen rappelköpfig. Seinen |410| Eigenheiten entsprachen denn auch seine Lieblingsausdrücke, als da waren: das ischt doch gar nix, munter munter, deutsche Wertarbeit, nehmt gefälligst euren Grips ein bißchen zusammen. Sein Haupt- und Staatswort aber hieß: Das ist schön bei uns Deutschen: Keiner ist so verrückt, daß er nicht noch einen Verrückteren fände, der ihn versteht.
    Gebürtig war der Dr. Jungandres aus dem Schwäbischen, kleinem Städtchen auf grünem Lande, da er das Kaiser-Maximilian-Gymnasium besucht und sein Vater die St.-Annen-Apotheke betrieben hatte. Seine Beharrlichkeit war schon während der Burschenzeit zum Vorschein gekommen, sie war nicht fanatisch, eher liberal, jedenfalls gemäßigt schwäbisch und gar nicht bierbayrisch, ein bißchen hinterhumorig war sie dabei auch. Sie zeigte sich zunächst in der Ausdauer, mit welcher er den alten Johann Jungandres davon überzeugte, daß er, Louis, zur Fortführung des väterlichen Geschäftes ganz und gar untauglich sei; wenn er, was ohnehin selten vorkam, einmal ausgeholfen hatte in der Apotheke, meldeten sich die Kunden alsbald in hellen Scharen, und selten ließ sich hinterher noch herausfinden, was er dem einen gegen Diarrhöe gegeben, dem zweiten in sein Schlafpulver gemischt, dem dritten in die Abführpillen gedreht hatte – fest stand nur, daß die Wirkung, wenn schon nicht entgegengesetzt, so doch mindestens seitenverkehrt eingetreten war. Später, während des Chemiestudiums, ward sie ersichtlich an der Hartnäckigkeit, mit der er sich auf diese schrullige Seitenlinie versteifte, die Papiermacherei. Als ob es da Probleme gäbe; als ob das überhaupt eine Wissenschaft sei!
    Sichtbar schließlich ward des Dr. Jungandres’ Beharrlichkeit ferner auch an der unbekümmerten Findigkeit, mit welcher er den Fallstricken des Ehestandes ausgewichen war, zahlreich ausgelegt von Frauen und Mädchen, Müttern und Witwen; er war, dreiundfünfzigjährig, noch immer Junggeselle.
    Im Jahre dreiunddreißig war der Dr. Jungandres nach Bermsthal gekommen; studiert hatte er in Berlin und Göttingen, |411| danach in Österreich das Handwerkliche von der Pike auf gelernt, später in Schweden und Finnland auf Holzplätzen und in Zellulosefabriken, in uralten Handschöpfwerken und an hochmodernen amerikanischen Langsiebmaschinen gearbeitet, hatte auch im Druckereigewerbe, in der Papierveredlung der Wertpapiermacherei und der Verpackungsindustrie hospitiert, dies alles deshalb, weil in jenen Jahren

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