Rummelplatz
hatte nicht werden sollen, wie der Mann gewesen war. Er war’s auch nicht. Er hatte ein ordentliches Handwerk gelernt, und wenn er’s auch jetzt nicht ausüben konnte: wer weiß, wozu es gut war. Sie hatte immer getan, was sie konnte, und auch die Hoffnung hatte sie nie aufgegeben. Nur gegen den Krieg konnte sie nichts. Da hatte sie Nachrichten gehört, jeden Tag, das hatte sie früher nie. Sie hatte nicht gewußt, was |72| das ist, ein Brückenkopf. Aber sie hatte sich erkundigt und hatte alles behalten: Panzerspitze, Absatzbewegung, Kesselschlacht, starke feindliche Kampffliegerverbände. Immer hatte sie gedacht: Er muß doch wiederkommen. Es muß doch einen Sinn haben. Sie dürfen ihn mir doch nicht … Sie hatte wieder beten gelernt.
Sie holten den Holzkoffer aus der Gepäckaufbewahrung, den er aus der Gefangenschaft mitgebracht hatte. Sie stiegen die Treppe zum Fernbahnsteig hinauf im Strom der Entgegenkommenden, der Aufgang war nur halbseitig benutzbar.
Der Zug war schon eingefahren, er war hoffnungslos überfüllt. Sie gingen am Zug entlang, sie hielt seinen Ärmel fest. »Schreib mir bald«, sagte sie hastig, »und paß auf dich auf.«
An den Waggontüren drängten sich die Menschen. »Du wirst nicht mitkommen«, sagte die Mutter; das war eine Hoffnung. Sie hielt ihn noch immer am Ärmel. Er setzte den Koffer ab und sah sich ratlos um.
Sie war selten mit einem Zug gefahren in ihrem Leben, und die Bahnhöfe waren ihr immer wie Eingänge zu einer anderen Welt erschienen. Früher hatte sie manchmal den Zügen nachgewinkt, in den häßlichen Hinterhöfen am Rande der Stadt. Früher waren die Bahnhofsuhren Knotenpunkte der Zeit gewesen, die Bahnsteige Schnittpunkte der Hoffnung. Sie hatte geglaubt, daß alle Leute so denken müßten, lauter fröhliche Leute bestiegen die Züge, fuhren irgendwohin, wo es besser war, kehrten heim aus lauter fröhlichen Ländern. Sie dachte jetzt nicht mehr daran. Auch die anderen dachten wohl nicht mehr daran. Dieses Volk war den langen Irrweg einer Nation gegangen, es war des Reisens müde.
»Komm«, sagte Nickel, »wir versuchen es weiter hinten.«
Sie gingen den Bahnsteig hinab, drängten sich durch die Menge, die träge auseinanderwich. Ringsum im Lande verebbte die Flut, die letzten Rinnsale sammelten sich in den Bahnhöfen. Halbwüchsige, die nirgendhin wußten mit sich, |73| ganze Familien auf der Suche nach einer Bleibe, einer Heimat vielleicht. Schieber und Hamsterer, schon wieder welche, die das Abenteuer suchten, manche suchten auch bloß das Gewimmel, suchten ihre Angehörigen, in Hoffnung gehalten von dreizehn Suchdiensten, Heimkehrer dort, geschorene Kriegsgefangene, schon wieder Dienstreisende, manchmal Funktionäre, Sachsen und Ostpreußen, Thüringer und Pommern, ein paar Eisenbahner. In der naßkalten Dämmerung der zerstörten deutschen Bahnhöfe vollzog sich die letzte Heerschau der Gestrandeten.
Es gab immer noch welche, die vor der ersten Klasse zurückscheuten. Hinter dem Postwagen hing ein Waggon I. Klasse, halbwegs verschont, Nickel schob seinen Koffer in den Gang. Er kam nicht weit, aber er kam mit. Er ließ das Fenster herunter. Die Mutter stand auf dem Bahnsteig. Sie redete herauf, aber er verstand sie nicht. Er nickte.
»Und rauche nicht soviel«, sagte sie. »Kauf dir lieber etwas zu essen, wenn du kannst, du kannst es gebrauchen.« Sie stand da in ihrem abgetragenen Wintermantel, ihren ausgetretenen Schuhen, ihr Gesicht war sehr klein. Sie verstand nicht viel von dem, was er da oben im Gebirge zu tun hatte. Sie wußte bloß, daß einem nirgends etwas geschenkt wurde.
Dann kam die blecherne Stimme aus dem Bahnsteiglautsprecher. Die Mutter kramte ein Päckchen aus ihrer Tasche, mehrfach eingewickelt und sorgsam verschnürt. »Es sind Äpfel drin, und Kuchen, und ein paar Zigaretten.« Sie hielt ihm das Päckchen hinauf und seufzte.
Der Zug ruckte an. Die Mutter lief mit dem Wagen mit, solange sie Schritt halten konnte, sie lief bis zum Ende der Halle, und sie lief auch noch, als ihr der Wagen lange davongefahren war. Dann stand sie an der Bahnsteigkante, hob die Hand, als ob sie winken wollte. Außerhalb der Bahnhofshalle verschwand der Zug rasch in der Dunkelheit. Eine Weile noch waren die roten Schlußlaternen zu sehen, dann auch die nicht mehr. Sie stand reglos, die Lippen aufeinandergepreßt, die |74| Hände gekrampft um die Bügel der Einkaufstasche. Hinter der gefältelten Stirn fuhr immer noch das breite Wagenfenster mit dem schmalen
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