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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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konnte, man fand sich.
    An diesem Abend saßen sie im Bierzelt. Saßen vor klebrigen Groggläsern, saßen auf Gartenstühlen an klobigen Bohlentischen, die sie quergestellt hatten im Hinterzelt, saßen im Lärmschatten der Lautsprecher. Mittelpunkt war der Fördermann Spieß, ehemaliger Landarbeiter, er war seit sechsundvierzig bei der Wismut und genoß das Ansehen und die Vorrechte des Alteingesessenen. Weiter als bis zum Fördermann hatte er es in seinen Schachtjahren allerdings nicht gebracht, er war ein bißchen schwerfällig. Spieß hatte als einziger der Runde sein Mädchen mit, seit drei Wochen ging er mit ihr. Sie hieß Radieschen, war mager und klein und zäh wie eine Katze. Sie war Verkäuferin, achtzehn Jahre alt, und Spieß war ihr siebenter Freund. Sie wußte aber, daß es diesmal der richtige war.
    Dezemberluft flutete herein, Lärm der Lautsprecher und Leierkästen brach sich an den Segeltuchwänden, Karusselllichter flackerten, Schnüre bunter Glühbirnen. Im Hinterzelt tranken sie Grog, und wenn die Gläser leer waren, tranken sie akzisefreien Bergarbeiterfusel aus mitgebrachten |78| Flaschen, zwei lagen schon leer unterm Tisch. Einer fehlte heute, der sonst immer dabei war: Müller, Siegfried Müller, Schachtzimmermann und Bewohner der Baracke vierundzwanzig, Rabenberg, jedenfalls bis vor kurzem. Kleinschmidt, Loose, Mehlhorn, Müller. Der Tischler war nämlich ausgezogen inzwischen, irgendwohin ins Unterdorf, hatte ein Bratkartoffelverhältnis mit einer Witwe. Nicht etwa deshalb aber fehlte er heute oder, genaugenommen, vielleicht doch. Er hatte sich nämlich einen Tripper geholt bei seiner Witib, man sprach gerade davon.
    Der mit der Hasenscharte hieß Heidewitzka, ehemals Leichtmatrose bei der glorreichen KM, in Schleswig aus einem englischen Gefangenenlager ausgebrochen. Heidewitzka meinte: »Wer sich den Tripper holt, der ist selber dran schuld!«
    Beifällig johlte die Horde, Liebling vor allem, ein spitzgesichtiger Dürrling, der Jüngste hier und deshalb besonders zotig, in Wahrheit aber war nicht viel dahinter, und wenig wußte er von den Fährnissen der Fleischeslust. Da aber auch von den anderen keiner wußte, wie derlei Unfälle zu verhüten wären, ebbte der Beifall alsbald ab, man harrte Heidewitzkas Verkündigung. Der legte seine braunen Raucherfinger auf den Tisch und sagte: »Das ist ganz einfach. Zuerst gehe ich immer mit dem Tabakfinger ran. Wenn sie da zuckt, ist die Fregatte leck.«
    Das war so der Stoff, aus dem das Thema eins gemacht war. Sie saßen in ihren Wattejacken, ließen die Flasche kreisen, gierige Münder in flackerndem Halbdunkel, und dann sangen sie sich eins, ohne Looses Gitarre diesmal, die war in der Baracke geblieben. Das schöne Lied vom Polenmädchen sangen sie, vom Polenmädchen im Polenstädtchen, das innig einen Fritz liebt, heimlich natürlich und fünf Strophen lang, dann aber geht’s ins Wasser, das brave Polenkind, sie liebte einmal nur und dann nicht mehr. Ein Liedchen war das, das hatten schon des Kaisers Feldgraue gesungen, jeder dritte Deutsche wenigstens kannte die Weise und kannte den Text, |79| die Väter vererbten’s den Söhnen und so fort bis auf die Kindeskinder, die Deutschen nämlich sind ein sangesfreudiges Volk, und gar hoch achten sie die kernige Poesie ihrer neueren Volkslieder. Die Horde aber ging vom Polenmädchen zu einer scharfen Tanzweise über, dünner wurde der Gesang, fürs erste war’s genug. Der Zeltwirt brachte eine neue Lage.
    Kleinschmidt und Loose saßen am unteren Tischende, etwas abseits von den anderen. Kleinschmidt trank wenig, Loose aber ließ sich langsam vollaufen. Loose wußte, daß sich Kleinschmidt hier nicht wohl fühlte, natürlich nicht, der Herr Oberschüler war Besseres gewöhnt. Der ging nur mit, weil er sich vor dem Alleinsein fürchtete. Wer fürchtete sich denn nicht vor dem Alleinsein, hier, in dieser Einöde, bei dieser Schinderei, wer hält denn nach acht Stunden täglicher Einsamkeit im Schacht noch sechzehn Stunden Einsamkeit über Tage aus? Nichts nützt da die Oberschule, nichts die Gescheitheit, zuerst ist der Mensch Mensch und braucht seinesgleichen. War Peter Loose etwa gern allein? Ja, manchmal schon. Aber das heulende Elend packte einen, wenn man nichts weiter hat als seine vier Barackenwände und seine acht Stunden mit der Schaufel am Stoß, der Stumpfsinn kriecht in die Gehirnwindungen und füllt den Schädel mit Blei, bis er platzt, bis man irgend etwas zerdrischt oder zur Flasche

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