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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Stangengitter hoch und ließ den Radiometristen vorangehen ins Fördergestell. Der Anschläger gab Signal. Bergschicker setzte seinen Kasten ab. »Mal isses die rechte Flosse, mal isses die linke«, sagte er. »Das muß richtig ’n blödes Gefühl sein, wenn dir mal gar nischt fehlt. Ich weiß schon nicht mehr, wie das ist.« Er drehte seine Lampe ab mit der gesunden Hand. Blechern pitschte das Tropfwasser.
    Es war das Alltägliche, und war dennoch nicht annehmbar. Spieß, der gut war als zweiter Mann, er war nicht brauchbar in eigener Verantwortung. Spieß und Loose, das war ein Fehler. Aber wer denn sollte die Neuen einarbeiten, wenn nicht die paar Leute, die den Schacht kannten? Ein Klotz von einem Kerl, ehemaliger Landarbeiter, seit sechsundvierzig dabei, ein Granitschädel, der schaffen konnte und zupacken |47| und nicht zimperlich war – und dennoch behielt er die einfachsten Sachen nicht, brauchte immer noch einen, der auf ihn aufpaßte und für ihn mitdachte. Und die Neuen, was war anzufangen mit ihnen? Kleinschmidt, Loose, Mehlhorn, Müller? Es ließ sich nicht viel sagen nach drei Tagen, und mußte dennoch täglich neu entschieden werden. Das war das Steiger-Einmaleins: Den richtigen Platz finden für jeden, für jeden Platz finden den Richtigen. Eine Formel, die der Schachtleiter Polotnikow eingeführt hatte. Ein guter Satz. Nur hatte er eine Prämisse, die hieß: Zuerst für alle Plätze finden irgendeinen.
    An der Hängebank trennten sie sich. Der Radiometrist ging über den zugigen Schachthof zur Baracke der Geophysiker, Fischer ging in die Steigerbude. Es erwartete ihn ein Anruf der Kreisleitung. Auf seinem Schreibtisch, der ehemals ein Ladentisch gewesen war, hatten sich während der Schicht allerhand Papiere angesammelt: Merkzettel, Formulare, eine Mitteilung des Fördersteigers, Broschüren auch.
    Der Schachtleiterhelfer war da und verglich, bevor er einfuhr, die Schichtergebnisse. Jemand von der Gewerkschaft brauchte einen Mann für einen Kurzlehrgang. Geduldig hinter randvollem Aschenbecher wartete der FDJ-Sekretär Heckert.
    Fischer erledigte, so gut es ging, was zu erledigen war. Dann nahm er mit Heckert noch die Liste der Neuen durch, aber für das, was sie vorhatten, war die Liste zu ungewiß: Namen nur, wenige Gesichter, noch kaum Geschichten.
    »Laß gut sein«, sagte Fischer. »Es ist besser, wir warten noch.«
    Er sah, daß Heckert enttäuscht war. An der Tür legte er ihm ermunternd die Hand auf die Schulter.
    Dann ging auch er.
    Er ging zur Durchlaßkontrolle: Draußen auf dem Vorplatz war der letzte Schichtbus lange abgefahren. Nasses Laub klebte am Straßenrand. Wasserlachen standen unter festgefahrener |48| Schlacke im Lehm. Fischer sah den Himmel zuerst vor seinen Füßen, Wind bewegte ihn, dann sah er ihn oben graublau bewölkt. Die Wolkendecke lag niedrig über dem Tal, wie ein grobes Tuch über eine Schüssel gedeckt. Das war ein Himmel, der müde macht. Fischer schritt gleichmäßig aus, er war den Weg zu oft gegangen; was jetzt galt, lag weiter ab. An der Abzweigung erwischte er einen Molotow-Kipper, der hielt an auf sein Handzeichen und nahm ihn mit.
    Sechs Tage lang war Fischer vom Lager zum Schacht gefahren, vom Schacht zum Lager – heute nahm er den anderen Weg. Aber er hatte auch diesmal das Gefühl, etwas Ungewisses zurückzulassen, das seiner Gegenwart gerade jetzt bedurfte; die Heimkehr schien ihm fast unerlaubt. Und immer diese Dämmerungen, jäh hereinbrechend, ein zähes Schweigen, das vom Wald her ins Tal kroch. Die Schneise, darin die Straße lag, versank in dunklem Gummi. Die Stämme schmolzen ineinander und die niederen Büsche, die Wegränder und Hintergründe, als ob etwas auf der Lauer läge. Erst der Waldrand gab den Blick frei, an den Hängen war noch Licht, am Kirchturm, am Schornstein der Papierfabrik. Vereinzelte Lichter der Schachtanlagen flackerten; nachts manchmal war nicht auszumachen, wo die Erde aufhörte und der Sternhimmel begann. Im Armaturenlicht sah Fischer das Gesicht des Fahrers. Es war ein strenges Gesicht, versteint vor der Dunkelheit. Er sah es schlaff werden in den Scheinwerfern entgegenkommender Lastwagen, und wieder hart in der Geborgenheit. Er sah die Hände auf dem Lenkrad, und sah den Lichtkegel draußen von der Straße gleiten, wenn sie sich bewegten. Er sah Straßenschilder und Laternen und die Menschen und ihre Baulichkeiten, da war ihm, daß er sich doch freuen müsse, weil er das alles noch erlebte. Denn er hatte einmal schon

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