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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Fauchen der SIS-Omnibusse, die sich im zweiten Gang den Rabenberg heraufquälten, und er dachte plötzlich ganz wach: Die Neuen kommen. Diese dreißig, vierzig Mann, ohne die sie den Schacht vielleicht noch zwei, drei Tage in Betrieb |10| gehalten hätten, vielleicht auch noch eine Woche, falls ausnahmsweise einmal nichts passiert wäre, kein Streckeneinbruch, kein Straßenrutsch, kein Förderausfall. Seit vierzehn Tagen schrien, schrieben und telefonierten sie; Fischer hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Gestern abend aber hatte ihn plötzlich der Objektleiter angerufen. Und Fischer wußte jetzt auch, daß er nicht nur der Kälte wegen so zerschlagen war, so unausgeschlafen, sondern vielmehr wegen der Ungewißheit, ob sie auch wirklich kämen, ob sie ihm nicht noch im letzten Moment irgendein anderer vor der Nase wegorganisierte.
    Fischer stand auf. Wie jeden Morgen schaltete er, ohne hinzusehen, das Radio an. Er ging zum Waschraum, goß sich hastig eine Kanne Wasser über den Hals, rieb sich mit dem Leinenhandtuch ab. Als er ins Zimmer zurückkam, dröhnte der Lautsprecher die Morgennachrichten durch die Baracke. Wie wir heute arbeiten, hatte jemand gesagt, werden wir morgen leben. Nebenan klopfte jemand an die Wand. Fischer drehte etwas leiser.
    Die Gummistiefel waren noch feucht, obwohl er sie gestern abend mit alten Zeitungen ausgestopft hatte. Auch die Lederjoppe roch noch nach muffigem Brackwasser. Im Vorübergehen betrachtete er sich einen Augenblick in dem alten Rasierspiegel neben der Tür, die eingefallenen, stoppeligen Wangen, die müden Augen. Dann ging er hinaus.
    Der Lagerverwalter stand schon vor der Tür, er war mürrisch wie immer und erwiderte Fischers Gruß nur mit einem gleichgültigen Kopfnicken. Die Luft war weniger feucht als gestern. Fischer hörte wieder das Grollen der Sprengungen, das in den letzten Tagen vom Regen verschluckt worden war. Drüben in der Teufelsschlucht schossen sie Mundlöcher auf. Es war bereits so hell, daß er bis ins Tal hinab sehen konnte. Er erkannte den Umriß des Schornsteins der Papierfabrik, über dem die hellgrauen Wolken sehr langsam aus Böhmen herüberzogen. Es war eine der größten Papierfabriken Europas, |11| aber davon nahm hier oben kaum jemand Notiz. Die Größenverhältnisse waren durcheinandergeraten, seit dieser unübersehbare Bergbaubetrieb, der sich über das ganze Gebirge bis hinein in das Vogtland, bis hinüber nach Thüringen zog, beinahe über Nacht in die Berge hineingestampft worden war: Wismut-AG.
    In den vergangenen Regentagen war der letzte Kilometer der provisorischen Autostraße, die sie vor zwei Jahren in den Wald geschlagen hatten, unterspült worden. Die SIS hielten tausend Meter hangabwärts.
    Vom Rande des Barackenlagers aus sah Fischer die Kolonne der Neuen den Berg heraufkriechen. Sie trotteten müde dahin, mit übernächtigten Gesichtern, die von hier aus bedrückend gleichförmig erschienen; gingen gebückt und manchmal strauchelnd unter der Last ihrer Koffer und Rucksäcke. Viele trugen Halbschuhe; manchmal, wenn sie von dem schmalen Schlackestreifen abkamen, der von der Straße übrig war, blieben sie im Morast stecken. Die Mäntel waren zerdrückt und grau. Grau wie dieser Oktobermorgen mit seinem kalten Himmel, mit den reglosen Fichten und dem dumpfigen Geruch der faulenden Baumstümpfe. Fischer versuchte zu zählen, aber die Köpfe tanzten auf und nieder, gerieten immer wieder durcheinander, er gab es schließlich auf.
    Er dachte: So bin ich auch einmal hier angekommen. Er sah die farblosen, lautlosen Gestalten herantrotten, und mit einem Male beschlich ihn die Müdigkeit seines halben Jahrhunderts. Er konnte ein Lied singen von diesen Aufbrüchen ins Ungewisse. Diesen Morgendämmerungen, die nicht wußten, was der Abend bringt. Gestern, als er neben Zacharias im Demonstrationszug marschiert war, hatte er sich für einen Augenblick frei und voller Kraft gefühlt. Er war für ein paar Stunden jung gewesen und ungebeugt von der Last der Prüfungen, der bestandenen und der nicht bestandenen. Aber heute war wieder Alltag. Heute war er wieder Steiger und für die Produktion verantwortlich, die schon auf 92 Prozent |12| herunter war. Wieder Parteisekretär und für die Neuen dort verantwortlich; hoffentlich waren wenigstens ein, zwei Genossen unter ihnen. In jenen ersten Nachkriegsjahren hing das Schicksal der Welt für eine Ewigkeitssekunde von der Produktion der deutschen Urangruben ab, und Fischer gehörte zu den

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