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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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|19| Kirche explodierte. Er taumelte weiter, in den Rauch, in die berstenden Mauern, vorbei an einer Frau, einer Fackel, die mit dem Kopf gegen eine Litfaßsäule rannte, und das versengte schwarze Hündchen umkroch winselnd seine Beine. Er kam in eine Straße, die sich vor ihm neigte, der Asphalt war heiß und klebrig; er wußte nicht, wo er war. Aber er hatte ein Ziel. Er suchte den Teich mit der kleinen Insel und den schmalen Uferpromenaden, das grüne Herz unter den steinernen Brüsten der Stadt. Er lief und taumelte unter dem roten Himmel, in dem sich die gelben Finger der Scheinwerfer kreuzten, unter dem weißen Licht der langsam niederschwebenden Christbäume. Er keuchte mit rasselnden Lungen an der Reihe der fahlgelben Straßenbahnwaggons entlang, Baracken, Straßenbahnwaggons, Baracken, weiter, weiter …

    »He, Mann, bleib doch stehen!«
    Christian blieb stehen, er sah den dicken Mehlhorn neben einem geborstenen Baumstumpf, der in Manneshöhe abgebrochen war. Christian drehte sich um, ging schwer atmend, er sah die Dinge um sich wie durch einen Nebel. Den Baumstumpf. Die langgestreckte Baracke. Den schmalen Kiesstreifen vor der Tür. Er ging zu den anderen.
    Sie betraten das Haus und gelangten auf einen dämmrigen Korridor. Sie fanden ihr Zimmer. Christian taumelte als letzter hinein, er ließ die Tür offen und sackte schwer auf das unbezogene Metallbett. Er zerrte sich den Rucksack vom Rücken, den Pappkoffer hatte er schon an der Tür abgesetzt; er schob den Rucksack an das Fußende des Bettes und streckte sich lang aus. Er fühlte sich von aller Last erlöst, völlig ausgelaugt, gehoben von einer plötzlichen Leichtigkeit, die ihn fast schwerelos machte. Die anderen untersuchten ihre Betten und Spinde, verstreuten Gegenstände im Raum. Christian bemerkte ein Mosaik von Zeitschriftenbildern, die über seinem Bett an die Wand gezweckt waren; Magazinfotos mit |20| nackten Frauen, der Jazztrompeter Louis Armstrong, eine hochbusige Sängerin mit aufgerissenem Mund, ein Wolkenkratzer, der steil in einen himbeerfarbenen Himmel stieß. Er verspürte ein dumpfes Knurren im Magen; plötzlich wußte er, daß er seit gestern nichts gegessen hatte.
    Das Zimmer war mit vier Betten, vier Spinden, vier Stühlen und einem Tisch eingerichtet; neben jedem Bett stand ein Hocker, der als Nachttisch diente. Christian betrachtete die Einrichtung, die durch die zerschlissene Igelitgardine und die lose herabbaumelnde Glühbirne nicht freundlicher wurde. Durch die dünnen Wände hörte er, wie sich in den Nebenräumen andere Neuankömmlinge einrichteten, er hörte eine Matratze quietschen, jemand rückte einen Schrank, ein Fenster wurde aufgeschlagen, etwas fiel zu Boden. Die Neuen hatten sich inzwischen im Lager verteilt. Im Oberstock spielte jemand Mundharmonika. Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein. Das Lied irrte lächerlich und brüchig durch die Fenster.
    Mehlhorn hatte seine Wäsche in den Spind geräumt. Er hängte ein Vorhängeschloß ein, schloß ab, steckte den Schlüssel in die Hosentasche. Mehlhorn hatte ein feistes Bäckergesicht mit sehr hellen, fortwährend blinzelnden Augen. Er hatte das beste Bett belegt, am Fenster, den einzigen Spind, in dem kein Brett, kein Haken, keine Leiste fehlte. Christian dachte: Ihm entgeht nichts, er hat seine Augen überall. Der wird’s wahrscheinlich hier schnell zu etwas bringen, das ist die Sorte, die immer auf die Beine fällt. Mehlhorn sagte, er gehe jetzt seine Decken in der Verwaltung abholen. Ob jemand mitkäme. Es ging aber niemand mit.
    Loose zog eine Gitarre aus dem Leinwandsack. Sie war zerkratzt, auf dem Boden war ein Dreieck Lack abgesprungen, das Griffbrett hatte helle Fingerflecken. Loose klimperte einige Akkorde, hängte das Instrument dann an einen Nagel über seinem Bett. Und da erkannte Christian ihn wieder. Der war einer von denen gewesen, die gestern in Chemnitz nicht an |21| der Kundgebung teilgenommen hatten. Sie hatten auf die Bestätigung ihres Gesundheitsattestes gewartet, auf den Stempel ›Bergbautauglich‹, und dazu hatten die Lautsprecher in den Korridoren des ehemaligen Arbeitsamtes von Viertelstunde zu Viertelstunde ihre Aufforderung geschnarrt, an der Großkundgebung für die neue Regierung teilzunehmen. Christian war nicht mitgegangen, mit ihm war noch ein gutes Dutzend von den zweihundert neuangeworbenen Kumpels zurückgeblieben, unter ihnen Loose. Christian hatte ihn in einer Ecke auf einem protzigen Ledersofa sitzen sehen, er hatte auf

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