S - Spur Der Angst
entgegnete Edie ruhig, und ein Teil ihrer Selbstgerechtigkeit verschwand. »Das war eine schlimme Zeit für uns alle«, räumte sie ein und richtete ihren Regenschirm, den eine heftige Windböe nach hinten gerissen hatte.
Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte Edie aufrichtig traurig, und Jules fragte sich, ob Rip Delaney die große Liebe ihrer Mutter gewesen war. Doch sie schob den Gedanken rasch beiseite, denn sie wusste es besser: Das war bloß eine ihrer albernen Wunschvorstellungen, der Traum einer Tochter, die stets gedacht hatte, ihre Eltern gehörten für immer und ewig zusammen, die begeistert gewesen war, als die beiden nach mehrjähriger Trennung wieder zueinandergefunden hatten, nur um zu erleben, wie sich ihr Traum in Luft auflöste. Rip und Edie hätten nie wieder zusammenkommen dürfen; die sprunghaften Launen und die Auseinandersetzungen, die sich während der Jahre ihrer Trennung gelegt hatten, fingen von vorn an, sobald die räumliche Distanz aufgehoben war. Nur Wochen, nachdem sie ihr Ehegelübde erneuert hatten, behauptete Edie in einem rasenden Eifersuchtsanfall, Rip würde sich mit einer anderen Frau treffen, und es stellte sich heraus, dass sie recht hatte. Rip Delaney war einfach nicht für die Ehe geschaffen, konnte nicht treu sein, obwohl Jules so sehr gehofft hatte, er würde sich ändern.
»Ich hätte ihn nie erneut heiraten dürfen«, hatte Edie nicht lange nach ihrer zweiten Hochzeit eingeräumt. »Die Katze lässt das Mausen nicht, das habe ich jetzt begriffen.«
Das Bild von ihrer Mutter, mit roten, vom Weinen geschwollenen Augen, hatte Jules schon lange vor dem Tod ihres Vaters verfolgt. Wenn der Apfel tatsächlich nicht weit vom Stamm fiele, waren Shay und sie wohl dazu verdammt, ein sehr einsames Leben zu führen.
Edie riss den Blick vom See los und seufzte theatralisch. »Sie fortzuschicken soll keine Strafe sein. Es ist lediglich der letzte Strohhalm. Sie braucht Hilfe, Jules, Hilfe, die sie von dir oder mir oder einem Therapeuten nicht annimmt. Vielleicht können sie ihr dort helfen. Bei Gott, das hoffe ich. Ist das nicht zumindest den Versuch wert?« Sie schaute hinauf in den Himmel, über den der Wind dunkle Wolken trieb. »Nun, es ist sowieso zu spät, wir können es nicht mehr ändern. Jetzt untersteht sie der Obhut anderer. Beten wir, dass es funktioniert!« Energisch machte sich Edie daran, die Stufen zum Plattenweg hinaufzusteigen, eine schlanke Frau, unbeugsam in ihren Überzeugungen.
»Warte eine Sekunde. Warum hat man Shay hier abgeholt, in dieser Prachtvilla? Kommt dir das nicht ein bisschen seltsam vor?« Jules folgte ihrer Mutter die Stufen hinauf.
»Eigentlich nicht, nein.«
»Nein? Edie?« Jules konnte es nicht fassen. »Du findest es nicht merkwürdig, dass du sie nicht selbst in diese Schule bringen darfst … oder dass sie keinen ganz normalen Linienflug zum nächsten Flughafen nehmen konnte, zum Beispiel zu dem in Medford?«
Edie ließ sich nicht aus dem Tritt bringen. »So wird das nun einmal gehandhabt. Dieses Haus gehört der Schule.«
»Du machst Witze!«
»Nein, ganz sicher nicht. Es wird vom Direktor genutzt, von Reverend Lynch.«
»Ach?« Jules war sprachlos. »Ein Prediger wohnt hier?«
»Zumindest zeitweilig, soweit ich weiß. Wenn er nicht in der Schule ist.«
Jules betrachtete das ausgedehnte, sanft abschüssige Anwesen mit den ordentlich gemähten Rasenflächen, den geschnittenen Sträuchern und den gepflegten, zum Teil mit Platten belegten oder gepflasterten Gartenwegen, die sich zu dem breiten Betonanleger mit dem langen Holzsteg und dem ziegelgemauerten Bootshaus hinabwanden. Die Villa war von den angrenzenden Grundstücken durch eine hohe Mauer abgeschirmt, hoch aufragende Fichten, langnadelige Kiefern und weißstämmige, um diese Jahreszeit kahle Birken bildeten den Hauptbaumbestand. Die einzigen anderen Häuser, die von hier aus zu sehen waren, lagen in weiter Ferne auf der gegenüberliegenden Seite des Sees.
Auf Jules wirkte das Anwesen des Reverends in der Tat spektakulär. Nicht unbedingt ein Arme-Leute-Quartier.
»Dann gilt dieser ›Ich verzichte auf jegliche Art von irdischem Besitz‹-Grundsatz wohl nicht für ihn.«
»Nun, vielleicht gehört die Villa der Schule, und er wohnt hier lediglich; das kann ich nicht mit Sicherheit sagen.«
Jules stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich nehme mal an, die Blue Rock Academy ist nicht gerade billig.«
Edie schürzte die Lippen. »Qualität hat ihren Preis, Jules, das solltest du
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