S - Spur Der Angst
Anleger«, unterbrach die Frau sie mit einem einstudierten, aalglatten Lächeln, das ihre Missbilligung nicht verbarg. Sie bat weder um einen Ausweis, noch erkundigte sie sich danach, was Jules bei Shaylees Abflug zu suchen hatte. Desinteressiert wedelte sie mit der Hand in Richtung eines Plattenwegs, der um das Haus herumführte. »Es könnte sein, dass Sie zu spät kommen. Das Flugzeug wird jeden Moment starten.«
Über das Trommeln des Regens hinweg hörte Jules das Geräusch eines Motors, der stotternd zum Leben erwachte. Verflucht! Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und stürmte in die Richtung, in die die Frau gedeutet hatte.
Kapitel zwei
L assen Sie die Hunde nicht raus!«, rief die dünne Frau Jules warnend hinterher, die über die unebenen, vom Regen glitschigen Steinplatten rannte, wider alle Vernunft hoffend, das Unaufhaltsame zu verhindern. Sie bog um die Ecke der majestätischen Villa und zog die Kapuze ihres Pullovers über den Kopf, obwohl ihr der kalte Regen bereits den Nacken hinunterrann. Rhododendronsträucher zitterten im Wind.
Egal. Sie wollte Shay noch einmal sehen, und wäre es auch nur für eine Minute.
Vor einem großen, ebenfalls schmiedeeisernen Tor blieb sie resigniert stehen, doch dann entdeckte sie, dass der Schlüssel im Schloss steckte, sperrte auf und hörte im Weiterlaufen, wie das Tor mit einem lauten Scheppern hinter ihr zufiel. Sie sprang eine Reihe von Stufen hinunter.
Die Hunde – zwei schwarze Riesenpudel – rasten auf das Tor zu. Sie warf ihnen kaum einen zweiten Blick zu, als sie Richtung Anleger und Bootshaus eilte, wo Edie unter einem Schirm stand, an dem heftig der Wind zerrte. Hinter ihr glitt ein Wasserflugzeug über die stahlgraue, gekräuselte Oberfläche, dann stieg es in den grauen Himmel von Seattle auf.
»Na großartig!« Jules’ Mut sank. Sie war zu spät. Verdammt noch mal! »Du hast sie wirklich in den Flieger gesetzt?«
»Das hatte ich dir doch gesagt. Himmelherrgott, Julia, sie erfüllt lediglich die Auflagen des Richters!« Edie Stillman, bekleidet mit einem blauen Jogginganzug aus Seide, drehte sich zu ihrer älteren Tochter um. Ihr Gesichtsausdruck sagte alles, als sie Jules’ Klamotten musterte. »Hast du nichts Anständiges anzuziehen?«, fragte sie peinlich berührt. »Du siehst aus wie ein Verbrecher.«
Regen trommelte auf die Kapuze von Jules’ Sweatshirt und tropfte vom Schild ihrer Baseballkappe. »Genau das hatte ich beabsichtigt.«
»Man kann ja nicht mal sehen, dass du eine Frau bist!«
»Das hat doch hiermit nichts zu tun!« Jules blickte durch ihre Sonnenbrille in den verhangenen Himmel und sah das Wasserflugzeug in den Wolken verschwinden. »Ach, Mom, ich habe doch gesagt, ich würde sie bei mir aufnehmen!«
»Und Shay hat gesagt … lass mich überlegen, wie ihre liebenswürdige Bemerkung formuliert war …« Edie legte einen Finger an den Mundwinkel und tat so, als dächte sie nach. Dicke Tropfen prasselten auf die Holzbohlen des Anlegers und sprenkelten die Wasseroberfläche. »Oh, jetzt fällt es mir wieder ein. Sie sagte: ›Ich würde mich lieber zu Tode kotzen, als mit Jules zusammenzuwohnen!‹ Was für eine nette Art, ›Nein, danke!‹ zu sagen.«
»Schon gut, schon gut. Ich weiß, dass sie nicht unbedingt begeistert von dem Vorschlag war, aber der Ort, an den du sie schickst, ist wirklich nicht besser als ein Gefängnis!«, erwiderte Jules gereizt.
»Ein ziemlich angenehmes ›Gefängnis‹, mehr wie ein Ferienlager oder ein Ort der Besinnung. Hast du dir die Broschüren angesehen?«
»Natürlich, ich bin sogar auf die Homepage gegangen. Trotzdem: Es gibt dort Wachpersonal und Zäune und –«
»Dann wird sie vielleicht lernen, ihre Freiheit zu schätzen«, fiel Edie ihr ungerührt ins Wort.
»Zu welchem Preis?«, fragte Jules, deren Sweatshirt inzwischen völlig durchnässt war. Hätte sie bloß ihre Jacke übergezogen! Das Motorengeräusch des Wasserflugzeugs war mittlerweile im Nichts verhallt. Sie dachte an die Artikel, die sie im Internet aufgerufen hatte, als sie von Edies Plan erfuhr, Shaylee auf die Blue Rock Academy zu verfrachten. »Ich habe recherchiert und bin darauf gestoßen, dass es Ärger gegeben hat. Im letzten Jahr ist die Schule in die Schlagzeilen geraten – im negativen Sinne. Vergangenen Herbst ist ein Mädchen spurlos verschwunden, eine Lehrkraft hat sich mit einem Schüler eingelassen und –«
»Was Lehrer und Schüler betrifft – das passiert überall, was natürlich
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