S - Spur Der Angst
wissen. Im Falle deiner Schwester ist Geld kein Thema. Ich habe mit Max gesprochen. Er hat seine Unterstützung zugesagt.«
Max Stillman war Shaylees Vater – besser gesagt: Erzeuger – und Erbe des »Stillmanschen Bauholzvermögens«, wie Jules sich anhören musste, seit ihre Mutter ihn vor fast neunzehn Jahren kennengelernt hatte. Theoretisch wäre Shaylee die Nächste in der Erbfolge, doch Max hatte seiner Tochter nie nahegestanden, und das wenige Interesse, das er für Shaylee aufgebracht hatte, war gänzlich erloschen, seit seine zweite und sehr viel jüngere Frau Hester seinen Sohn Max junior zur Welt gebracht hatte. Max war vor gut vier Jahren geboren, kurz nachdem Shaylee »schwierig« geworden war – eine Bezeichnung, die sich schon bald zu »ein Problemfall« ausgewachsen hatte.
Jules rückte ihre Basketballkappe zurecht. »Es kommt mir einfach nicht richtig vor … Shay irgendwo ans Ende der Welt abzuschieben.«
»Ich tue lediglich das, was der Richter angeordnet hat«, wiederholte Edie mit fester Stimme und nahm die letzten Stufen vor dem Plattenweg, der zurück zum Haus führte. Einer der schwarzen Riesenpudel raste die breite Veranda auf der Rückseite des Hauses entlang, während sein Kumpel eifrig eine tropfnasse Azalee beschnupperte.
»Nur für den Fall, dass du es vergessen haben solltest: Shay hat keine Wahl – die Blue Rock Academy oder das Jugendgefängnis, und das auch nur, weil sie noch minderjährig ist. Sie wird im Juni achtzehn, dann gibt es keinen Freifahrtschein mehr.« Edie erschauderte. »Ich habe getan, was der Richter verlangt hat: die Schule ausgewählt, den Papierkram erledigt, Shay dorthin verfrachtet. Ich habe sogar mit deiner Cousine Analise gesprochen: Sie war ebenfalls dort, wegen Drogenproblemen, wie du dich vielleicht erinnerst. Ein Junkie. Hat ihr Leben umgekrempelt und besucht nun eine Schwesternschule. Also mach mir wegen dieser Sache bitte kein schlechtes Gewissen, Julia. Die Schule ist in Ordnung.«
»Was ist mit Lauren Conway?«
»Es tut mir leid, dass sie vermisst wird, aber für mich klingt das eher nach einem Fall für die Polizei.« Edie warf ihr einen finsteren Blick zu. »Du solltest nach vorn blicken, Julia. Es wird Zeit, dass du dein eigenes Leben in die Hände nimmst und betest, dass deine Schwester die Gelegenheit zu einem Neuanfang tatsächlich nutzt.«
Edie berührte Jules’ nassen Ärmel, der Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde weicher. »Du musst nicht die Verantwortung für die ganze Welt auf deine Schultern nehmen. Du bist nicht einmal siebenundzwanzig – du solltest dein Leben genießen! Stattdessen benimmst du dich wie eine Vierzigjährige: machst dir Sorgen um Shaylee, obwohl das zu nichts führt.«
Eine Windböe zerrte an Edies Haar. »Ich weiß, dass das mit Rips Tod zusammenhängt, Liebes, und ich wünschte bei Gott, du wärst in jener Nacht nicht daheim gewesen …« Ihre Stimme verklang, aber nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich wünschte, niemand von uns wäre da gewesen. Ach, verdammt.« Sie blinzelte, mühsam gegen die Tränen ankämpfend. Dann drehte sie sich rasch um und eilte den Plattenweg entlang Richtung Tor, während Jules, verblüfft über diesen Anflug von Verständnis, allein im Regen zurückblieb.
»Wow«, flüsterte sie und räusperte sich.
Plötzlich fragte sie sich, wo die Hunde geblieben waren. Sie hatte sie nicht ins Haus schlüpfen sehen, doch sie waren verschwunden.
Jules folgte ihrer Mutter durch das Seitentor und schlug den Weg zur Vorderseite der Villa ein, wo Edie schon in ihrer Handtasche nach den Autoschlüsseln wühlte. Als sie sie gefunden hatte, blickte sie auf und musterte Jules kurz. Die mütterliche Sorge war aus ihrem Gesicht verschwunden. »Ich dachte, du hättest heute früh ein Einstellungsgespräch.«
Jules merkte, wie sie sich verspannte. Es war schwer, mit den schwankenden Launen ihrer Mutter mitzuhalten. »Ich habe es abgesagt, da mir das hier wichtiger erschien.«
»Das war dumm.« Mit gerunzelter Stirn stieg Edie in ihren Wagen. »Du kannst es dir nicht leisten, eine solche Gelegenheit einfach verstreichen zu lassen. Es gibt um diese Jahreszeit nicht viele Stellenangebote für Lehrpersonal, Julia.« Edie sprach, als hätte sie Erfahrung auf diesem Gebiet, dabei hatte sie in ihrem Leben kaum einen Tag gearbeitet.
»Ich denke, sie stellen ohnehin nur jemanden von einer anderen Schule ein«, erklärte Jules, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. »Eine Freundin von mir
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