Sabihas Lied
Bösen, die Hässlichen und die Schönen, die Alten und die Jungen, die Gebrechlichen und die Gesunden â für Dom waren sie alle gleich viel wert. Er hatte die entlegensten Häfen der Welt angesteuert und alles gesehen, was die Menschheit aufzubieten hat. Selbst wer nur ein halber Mensch war, bekam Doms Liebe zu spüren. Die streunenden Hunde und Katzen im gepflasterten Hintergässchen, das bis heute abrupt an der Küchentür endet, fütterte er mit Essensresten. Natürlich hatte auch Doms Toleranz ihre Grenzen, aber er war überwiegend aufgeschlossen und begegnete allen mit Wohlwollen. Religiös war er nicht, doch er hatte nichts dagegen, wenn andere es waren. Dom besaà die Gabe des Glücks. Er hatte sie von seiner Mutter geerbt. Seine offene, groÃzügige Art konnte sogar dem sauertöpfischsten Menschen noch ein Lächeln entlocken.
Ein Jammer, dass er auf diese Weise starb. Nach seinem Zusammenbruch waren keine zwei Minuten verstrichen, als Houria vom Speiseraum in die Küche zurückkehrte. Sie trat durch den Perlenvorhang, eine launige Bemerkung auf den Lippen, und rechnete mit gefüllten Suppentellern, die sie den wartenden Gästen auftragen wollte. Schon auf den ersten Blick erkannte sie, dass Dom Pakos tot war. Houria schrie aber nicht und reagierte in keiner Weise so, als erlebte sie gerade etwas Furchtbares. Sie kniete sich auf die alten gesprungenen Kacheln neben ihren Mann und umfasste behutsam seinen Kopf. »Dom«, rief sie leise, als könnte sie ihn womöglich wecken. Dabei wusste sie, dass er tot war. Der Tod ist unmissverständlich. Aber sie konnte nicht glauben, dass er tot war. Es war das allererste Mal, dass sie im Gesicht ihres Mannes einen Ausdruck von Unmut sah, und der sollte ihr in Erinnerung bleiben.
Bei der Obduktion, die zwei Tage später in der Leichenhalle des Krankenhauses durchgeführt wurde, stellte der Pathologe fest, dass in Doms Bauchaorta ein Aneurysma geplatzt war. »Er hat kaum gelitten«, tröstete er Houria, als sie ins Krankenhaus kam, um den Befund zu hören. Der Pathologe war hochgewachsen, er hatte traurige Augen mit schweren hängenden Lidern, als trüge er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern, und einen kleinen Schnurrbart unter der groÃen Nase. Bei seinem Anblick musste Houria an den Mann denken, der Frankreichs Ehre gerettet hatte, Le Général persönlich. Sie fühlte sich sicher in seiner Obhut und glaubte fast, obwohl sie in seinem Büro direkt neben der Leichenhalle saÃ, wo Doms Ãberreste lagen, der Pathologe würde ihr mitteilen, dass Dom gar nicht gestorben war.
»Er ist also tatsächlich tot?«, sagte sie schlieÃlich, wobei der winzige Funke Hoffnung, den sie bislang hegte, flackernd verlöschte, kaum hatte sie den Satz ausgesprochen.
»Aber ja, Madame Pakos, Ihr Mann hat zweifellos das Zeitliche gesegnet.« Der Pathologe lächelte und befingerte seinen kleinen Schnurrbart, der Houria mittlerweile an Hitlers Oberlippenbärtchen denken lieÃ. »Für sein Alter war Ihr Mann erstaunlich gut in Form, Madame Pakos.« Er hörte sich so freudig überrascht an, dass sie einen flüchtigen Moment lang dachte, er übermittle ihr gute Neuigkeiten. »Offensichtlich haben Sie hervorragend für Ihren Mann gesorgt. Als sein Aneurysma platzte, ist er binnen Sekunden ausgeblutet.« Der Pathologe verstummte, dachte einen Augenblick nach, dann machte er plötzlich »Wuuuhsch!«, wobei er durch seine gespitzten Lippen Luft entweichen lieà und gleichzeitig beide Hände nach vorn schleuderte, über den Schreibtisch hinweg auf Houria zu, um die Explosion anzudeuten.
Houria schreckte hoch.
Der Pathologe musterte sie aufmerksam, dann verkündete er in getragenem Ton: »Kaum waren die Pforten geöffnet, Madame Pakos, hat Doms groÃes Herz in heldenhafter Pflichterfüllung das Blut in seine Bauchhöhle gepumpt, und zwar mit rasender Geschwindigkeit, doch vergebens.« Er holte tief Luft und beugte sich mit verschwörerischer Inbrunst zu Houria vor. »Wenn im menschlichen Körper der Canal Grande über die Ufer tritt, erfolgt der Tod umso schneller, je kräftiger das Herz ist.« Er lehnte sich zurück. Houria konnte ihm am Gesicht ablesen, dass er dieses Bild in höchstem MaÃe gelungen fand, und sie fragte sich, ob sie ihm vielleicht gratulieren sollte. Aber die Unterredung war vorbei. Der
Weitere Kostenlose Bücher