Sabihas Lied
StraÃenstaub. Als seine Frau ihm Lesebrille und Brief gereicht hatte, hielt er den Umschlag unter die Türbeleuchtung, um sich die Schrift anzusehen. Hakim schob seinen rissigen Daumennagel unter die Verschlussklappe, riss den Umschlag auf, zog das Blatt heraus und faltete es auf. Dann las er ihnen den Brief seiner Schwester vor, langsam, sorgfältig jedes Wort artikulierend, mit Pausen am Ende eines jeden Satzes. Als er sich der kommunistischen Partei anschloss, hatte Hakim zwar seine Stellung als Beamter, aber weder seine Ideale noch seine Selbstachtung verloren. Nachdem er den Brief zu Ende gelesen hatte, sah er seiner Frau und den Töchtern ins Gesicht. »Dom Pakos ist tot«, fasste er zusammen. Den Mann seiner Schwester hatte er nie kennengelernt. »Houria kommt nach Hause zurück.«
Hakim wusch sich, dann ging er in den Hof und setzte sich auf die Bank unter dem Granatapfelbaum mit Blick auf die Ruinen des Amphitheaters, die hinter der Hofmauer aufragten, und genoss bei einer Zigarette die letzten Sonnenstrahlen. Die antiken Steine schimmerten im Abendlicht wie Gold. Seine Frau brachte ihm ein Glas Minztee, und er dankte ihr. Sie ging wieder ins Haus, um das Abendessen vorzubereiten, er blieb allein in der Stille sitzen, schlürfte seinen Tee in kleinen Schlucken und zog ab und zu an seiner Zigarette. Die Verzweiflung, die aus den Worten seiner Schwester sprach, war ihm nicht entgangen, und ihr Schmerz hatte ihn berührt. Sie hatten sich dreiÃig Jahre lang nicht gesehen. Er beschloss, seine jüngste Tochter Sabiha nach Paris zu schicken, um Houria Gesellschaft zu leisten und ihr beizustehen, bis es ihr gelungen war, einen Käufer für ihr Café zu finden und ihren Umzug nach El Djem zu organisieren. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass seine trauernde Schwester in der fernen Stadt ihres Exils ganz allein war. Als dieser Entschluss in ihm reifte, dachte Hakim an die Muster, die sich in einer Familie herausbilden und von einer Generation zur nächsten wiederholt werden wie die Muster in einem Teppichgewebe. Er dachte daran, wie Houria vor so vielen Jahren mit seiner Mutter aufgebrochen war, während er und sein Vater und zwei Brüder dem Bus hinterhersahen, der am Postamt losfuhr, wie seine Schwester und seine Mutter das Gesicht ans Fenster pressten und zum Abschied winkten. Damals war er noch nicht mal erwachsen und hatte gar nicht verstanden, warum seine Mutter wegging, aber er hatte sich damit abgefunden.
Sabiha trat aus dem Haus. Von seinen Töchtern war sie ihm die liebste. Sie kam auf ihn zu und nahm den Brief ihrer Tante, den er neben sich auf die Bank gelegt hatte. Er betrachtete sie beim Lesen und sah, wie sehr sie zum Sprung bereit war. Sein Trotzkopf, wie er sie nannte. Zwei Töchter, von denen eine vom Schicksal auserkoren war. Aus unerfindlichem Grund hatte er vom Tag ihrer Geburt an gewusst, dass sie sich anders entwickeln würde als ihre Schwester. Sabiha und er verstanden sich auf eine Weise, die sie sich beide nicht erklären konnten. Er wusste, dass sie mit Hourias Trauer zurechtkommen würde und auch mit Paris, wenn es sein müsste, sogar mit der ganzen Welt. Woran liegt es nur, fragte er sich, während er seine schöne lesende Tochter liebevoll betrachtete, dass manche Menschen sich so sehr von den anderen unterscheiden und ihren ganz eigenen Weg gehen müssen?
Sabiha setzte sich zu ihrem Vater auf die schmale Bank und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Fehlt dir deine Schwester?«, fragte sie. Sie träumte bereits von ihrer Tante Houria in Paris und sehnte sich danach, sie kennenzulernen und Paris zu entdecken.
S eit Doms Tod wusste Houria nicht mehr, was sie mit ihren Haaren anstellen sollte. Dom gefiel langes Haar, ihm gefiel es, wenn sie abends am Frisiertisch saà und vor dem Spiegel ihren Knoten löste und sich die Haare bürstete, während er sie vom Bett aus bewunderte. »Langes Haar ist die wahre Zierde einer Frau«, sagte er gern, wenn sie sich nackt zu ihm legte, und fasste sie um die Taille. Sie schliefen beide nackt. Sommers wie winters. Zu Doms Lebzeiten stand es völlig auÃer Frage, dass Houria sich die Haare abschneiden lieÃ. Dabei hatte sie Frauen mit Kurzhaarschnitt insgeheim beneidet, schon eine ganze Weile.
Auch wenn niemand, vor allem nicht Houria, behauptet hätte, dass Doms Tod für sie in gewisser Hinsicht ein Segen war, konnte sie sich jetzt zweifellos mehr
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