Saemtliche Werke von Karl May - Band 01
du nicht sein Lächeln gesehen, als du dies behauptetest?« fragte Anton. »Er scheint überzeugt zu sein, daß er die Höhle entdeckt, und ich glaube, daß dies wirklich geschieht. Heute wirst du reich werden, sehr reich, jedenfalls noch viel reicher, wie ich bin oder vielmehr wie mein Vater ist. Haben deine Vorfahren denn wirklich so viel Gold und Silber gehabt, wie erzählt wird und wie man in den Büchern liest?«
»Nicht nur so viel, sondern noch viel, viel mehr. Damals, als die Inkas von den Spaniern überfallen und ausgeraubt wurden, haben viele, viele Reiche des Landes ihre Kostbarkeiten vergraben oder in andrer Weise versteckt, und nach ihrem Tode hat niemand gewußt, wo es verborgen ist. So liegen nun Millionen und aber Millionen in der Erde versteckt, welche keinem Menschen – – Schaden bringen können.«
»Schaden? Wolltest du nicht Nutzen sagen?«
»Nein, sondern Schaden. Die großen Reichtümer meines Volkes sind schuld, daß es untergegangen ist. Wäre es arm gewesen, so hätten die Spanier, als sie nach Peru kamen, sich entfernt, ohne wiederzukommen. Weißt du, wie der unglücklichste aller meiner Ahnen betrogen worden ist?«
»Nein.«
»Als er gefangen war, wurde er in einen großen, weiten Saal gebracht, und Pizarro, der Eroberer, zog mit der Spitze seines Schwertes, so hoch er reichen konnte, einen Strich um die vier Wände hin und versprach ihm die Freiheit, wenn er den Saal bis an den Strich hinauf mit Gold und Silber füllen werde. Der Inka kam dieser Forderung nach, aber der Spanier hielt nicht Wort. Der Saal wurde zum zweitenmal bis an den Strich gefüllt, und auch da hielt der Lügner sein Versprechen nicht. Er war ein Christ, der dann die Lehre von der Wahrheit und von der Liebe gewaltsam im Lande verbreiten ließ. Du siehst, daß der Reichtum mein Volk ins Verderben gebracht hat.«
»Ja, zwei große Säle voller Gold und Silber! Sollte man dies für möglich halten !«
»Du wunderst dich? Dann weißt du nichts von den Schätzen, welche in den beiden Sonnentempeln zu Kuzko und Tschukitu, in den Tempeln von Huanakauri, Katscha, Vilikanota und an den vielen andern heiligen Orten, welche Huakas genannt wurden, zu finden waren. Im Sonnentempel zu Kuzko gab es über viertausend Priester und Diener. Alle Thüren hatten massiv goldene Pfosten, und die Fensteröffnungen waren mit Smaragden und andern Edelsteinen ausgekleidet. Alle Wände waren mit Goldplatten getäfelt. Da standen die Bildsäulen der Götter und Göttinnen aus purem Golde und diejenigen der Inkas aus reinem Silber. Es gab da unzählige Gefäße und Gerätschaften, alle aus denselben edlen Metallen gefertigt. Aus den fünf Quellen der umliegenden Berge führten goldene Röhren das Wasser in goldene oder silberne Becken, zum Trinken, zum Reinigen der Gefäße und zum Baden der Opfertiere. Soll ich dir noch mehr erzählen? Hast du eine Zahl, ein Maß für den Wert solcher Reichtümer?«
»Nein, nein! halt ein; es wird mir angst dabei! Wenn du von solchen Gebäuden, Bildsäulen und Gefäßen redest, muß es bei euch große Künstler gegeben haben.«
»Es hat sie gegeben, obgleich unsre Kunst eine andre als die eurige war.«
»Und die Wissenschaft?«
»Ich bin ein Knabe, in der Einsamkeit der Berge aufgewachsen, und kann nicht von dem sprechen, was ihr Wissenschaft nennt. Aber gelehrte Leute hatten auch wir. Denke nur an die Kippu-Kamayoks, von denen du wohl gehört haben wirst.«
»Ja, das waren eure Schriftgelehrten; aber eure Schrift bestand nicht aus Buchstaben und Wörtern wie die unsrige, sondern aus Schnüren, in welche Knoten geknüpft wurden. Wie ist es möglich, solche Schnüre so zu lesen, wie wir unsre Bücher, Zeitungen und andern Schriften lesen!«
»Das war freilich eine nicht leichte Kunst, und nicht jeder konnte wie bei euch das Lesen und Schreiben erlernen. Ein solcher Kippu konnte nur von einem Schriftgelehrten, welcher Kamayok genannt wurde, geknüpft oder gelesen werden. Es wurden nur die zuverlässigsten Leute zu Kippu-Kamayoks gewählt, und in jedem Dorfe fanden sich Kippuverwalter, welche ihre Kunst nur auf ihre Nachkommen vererbten. Mein alter Anciano stammt aus einer solchen Familie und würde heut noch jeden Kippu, den er fände, lesen und entziffern können.«
»Kannst du das auch?«
»Ja, denn ich bin der Nachkomme der Herrscher, welche vor allen Dingen diese Kunst verstehen mußten. Bring mir ein Schnurbündel, und ich lese es dir so vor, wie du die Worte eines Briefes vom Papiere liesest.
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