Saemtliche Werke von Karl May - Band 01
die Messer verursachten, einen Klang annahm, welcher verriet, daß die Decke nun bald durchbrochen sei.
»Macht jetzt leise, so leise wie möglich,« gebot Sam Hawkens, »sonst hören sie euch oben.«
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so fiel draußen über den Arbeitenden ein Schuß, und einige Augenblicke später rief Dick Stone, welcher neben Droll oben im Loche arbeitete:
» All devils! Ich bin verwundet.«
»Ist’s möglich? Wo denn?« fragte Sam.
»Im Oberarme. Die Halunken schießen auf uns.«
»Durch die Decke? Da haben sie also das Geräusch eurer Messer gehört. Ist’s bös mit der Wunde?«
»Glaube nicht. Wahrscheinlich ein Streifschuß. Der Knochen ist unverletzt; aber ich fühle das Blut rinnen.«
»So kommt schnell herab! Sie könnten wieder schießen und euch in die Köpfe treffen. Wollen deinen Arm untersuchen.«
Jetzt war es gut, daß man die Lampe nicht ganz ausgebrannt hatte. Kaum war der Platz unter dem Loche frei geworden, so fielen noch zwei oder drei Schüsse durch die Decke. Man hörte die Kugeln unten in den Boden schlagen. Sam Hawkens stieß ein überlautes Gebrüll aus.
»Was schreist du?« fragte ihn Parker. »Bist du getroffen worden?«
»Nein. Will bloß wissen, wo die Halunken stehen.«
Oben ertönte ein Freudengeheul. Die Indianer hatten die Stimme Sams gehört, glaubten, ihn getroffen zu haben, und äußerten in dieser Weise ihre Freude darüber.
»Sehr gut!« lachte Sam. »Die Kerls liegen oder kauern gerade über unserm Loche und horchen. Wollen ihnen auch einige Kugeln geben. Frank und Droll, kommt! In unsern drei Doppelgewehren stecken sechs Kugeln. Jeder zwei Schüsse schnell hintereinander. Eins – zwei – drei!«
Die Schüsse krachten, und sofort erhob sich draußen über den Gefangenen ein Wut- und Schmerzensgeheul.
»Well! Ausgezeichnet! Hihihihi!« lachte Sam. »Wir scheinen einige getroffen zu haben. Glaube nicht, daß sie sich wieder hersetzen, um zu lauschen.«
»Aber ich stelle mich auch nicht wieder in das Loch, um auf mich schießen zu lassen!« murrte Stone.
»Wird kein Mensch verlangen,« erwiderte Sam. »Zeig deinen Arm!«
Die Lampe war wieder angebrannt worden. Beim Scheine derselben stellte es sich heraus, daß es nur eine kleine Streifwunde war, welche leicht verbunden werden konnte. Als dies geschehen, ließ sich der Hobble-Frank hören:
»Wir hätten nich durch die Decke, sondern hier unten durch die Mauer graben sollen. Off der Decke schtehen die Indianer und hören uns. Brechen wir aber durch die Mauer, so kann uns keen Mensch hören.«
»Aber die Arbeit ist viel schwerer,« warf Sam ein.
»Lieber eene schwere Arbeit, wobei man nich das Leben wagt, als eene leichte, bei der man erschossen wird. Das is meine unmaßgebliche Kompensation, mit welcher ich geflissentlicherweise recht haben werde.«
Man stimmte ihm bei. Es wurde eine kurze Beratung gehalten, deren Ergebnis der Beschluß war, seinem Rate Folge zu leisten. Die in der Außenmauer befindlichen Luftlöcher waren so groß, daß man zwei Flintenläufe nebeneinander in eins derselben stecken und sie als Hebel benützen konnte. Auf diese Weise gelang es, allerdings erst nach stundenlanger Anstrengung, das Bindematerial der Steine so zu lockern, daß man nun mit den Messern fortfahren konnte.
Darüber verging der Nachmittag. Es war Abend geworden, als endlich der erste Stein aus der Mauer fiel. Der erste! Und wie viele waren noch zu entfernen! Und wie stand es mit den Gefangenen! Sie hatten hier Rast machen und sich erholen wollen; aber es war nach ihrer Ankunft nur Zeit zum Trinken, nicht zum Essen gewesen. Nun waren sie schon über einen Tag gefangen, ohne etwas genossen zu haben. Der Hunger und der Durst stellten sich ein. Das hatte bei den Erwachsenen jetzt noch nicht viel zu sagen, aber die Kinder verlangten nach Speise und nach Trank und konnten nicht leicht beruhigt werden.
Indem immer je zwei und zwei sich ablösten, wurde die ganze Nacht hindurch an dem Loche gearbeitet; es ging äußerst langsam vorwärts, weil die Mauer so stark und der Mörtel fast noch fester als der Stein war. Endlich war man hindurch; ein Stein fiel nach außen. Das kleine Loch, welches dadurch entstanden war, ließ den fahlen Schein des anbrechenden Morgens hereinfallen. Nun ging es rascher; noch eine halbe Stunde und das Loch war so weit, daß ein Mann hinauskriechen konnte.
»Gewonnen!« jubelte Frau Rosalie. »Dieses Loch is zwar keene bequeme Passage für eene anschtändige Dame, aber wenn
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