Saemtliche Werke von Karl May - Band 01
aufgescharrt.«
»Welche Ursache mag da vorgelegen haben?« meinte der Oelprinz.
»Wer weiß das! Wahrscheinlich erfahren wir es später.«
»Ich möchte es aber schon jetzt wissen. Seht, da führen Spuren von hier grad ins Gebüsch! Wollen einmal sehen, was es da drin gegeben hat!«
Sie ließen ihre Pferde stehen und gingen auf das Gesträuch zu. Da hörten sie eine Stimme in deutscher Sprache rufen:
»Zu Hilfe, zu Hilfe! Kommt her, kommt hier herein!«
Sie blieben stehen und horchten.
»Das war nicht englisch,« sagte der Oelprinz.
»Es schien deutsch zu sein; ich verstehe es aber nicht,« meinte Buttler.
»Aber ich verstehe es,« erklärte Poller, der einstige Führer der Auswanderer. »Es ruft jemand um Hilfe und bittet uns, zu ihm hineinzukommen.«
»Das können wir thun, denn wenn jemand unsre Hilfe braucht, da haben wir nichts zu befürchten.«
»Aber wenn es eine Finte ist, wenn wir in eine Falle gelockt werden sollen!«
»Das glaube ich nicht. Kommt nur immer mit!«
Sie folgten den Fuß- und Hufstapfen, die in das Gebüsch führten, und sahen bald zwei gesattelte Pferde, welche im Gesträuche angebunden waren. Sie schienen dem um Hilfe Bittenden so nahe gekommen zu sein, daß er sie sehen konnte, denn er rief jetzt:
»Hierher, hierher, Herr Poller! Haben Sie die Güte und schneiden Sie mich los!«
»Er ruft mich; er kennt mich!« sagte Poller.
»Kommen Sie doch, Herr Poller, kommen Sie schnell!« rief es wieder.
»Alle Teufel! Wenn ich mich da nicht irre, so ist das die Stimme des verrückten Kantors, der eine Oper von zwölf Akten komponieren will und dabei allerlei Dummheiten macht! Kommt! Da brauchen wir uns freilich nicht zu fürchten.«
»Aber,« meinte der Oelprinz vorsichtig, »er gehört jetzt zu Old Shatterhand und Winnetou, und wer weiß, ob das nicht eine Schlinge ist, in welche wir die Köpfe stecken sollen.«
»Schwerlich, schwerlich! Ich bin vielmehr überzeugt, daß er abermals infolge eines dummen Streiches hier stecken- und zurückgeblieben ist. Kommt nur getrost mit mir weiter!«
Er drang tiefer in das Gebüsch ein, und sie folgten ihm. Da bewahrheitete sich die Vermutung Pollers allerdings, denn sie sahen den Kantor, dem die Hände auf den Rücken und dann an den Stamm eines Baumes festgebunden waren. Man hatte das allerdings in einer Weise gethan, daß er sich dabei in einer völlig schmerzlosen und ganz bequemen Lage befand, denn er saß in dem weichen Grase des ebenso weichen Bodens und lehnte mit dem Rücken an dem Baum.
»Sie, Herr Kantor?« fragte Poller. »Das ist doch sonderbar!«
»Kantor emeritus, wenn ich Sie bitten darf! Es ist sowohl der Vollständigkeit, als auch der Unterscheidung wegen, denn ein Emeritus ist nicht mehr aktiv, Herr Poller.«
»Ihre Lage scheint allerdings eine mehr passive als aktive zu sein. Wie sind Sie denn in diese Passivität geraten?«
»Man hat mich hier angebunden.«
»Das sehe ich. Aber wer?«
»Stone und Parker.«
»Aber die können das doch nicht aus eigenem Antriebe gethan haben!«
»Nein. Old Shatterhand war es, der es ihnen befohlen hat.«
»Warum?«
»Das – – das weiß – – das weiß ich eigentlich gar nicht,« sagte er, weil er sich doch genierte, den Grund mitzuteilen.
»Aber Old Shatterhand thut doch nie etwas ohne Ursache!«
»Nein; er wird wohl auch hier eine gehabt haben; aber ich kenne sie wirklich nicht. Fragen Sie mich also nicht darnach, sondern schneiden Sie mich lieber los!«
»Das kann nicht so leicht und schnell geschehen, wie Sie denken.«
»Warum?«
»Ich möchte wohl, aber – – – aber ich muß auch wissen, daß es angebracht ist und keinen Schaden macht.«
»Was sollte es denn für Schaden bringen!«
»Das weiß ich nicht; aber Old Shatterhand wird es wissen. Er hat Sie jedenfalls hier anbinden lassen, um Sie an der Ausführung irgend einer Dummheit zu verhindern. Dennoch aber finde ich es sehr unrecht von ihm, Sie hier festknüpfen und in der Wildnis so allein und ohne Schutz zu lassen.«
»Allein? Ich bin nicht allein.«
»Nicht?«
»Nein. Es ist noch jemand da.«
»Wer?«
»Herr Rollins, der Bankier.«
»Der?« fragte Poller, indem es wie Befriedigung über sein Gesicht ging. »Nur dieser oder noch jemand?«
»Er allein.«
»Auch angebunden?«
»Nein, sondern um mich zu bewachen. Er hat sich selbst dazu angeboten. Ich habe ihn ohne Unterlaß himmelhoch gebeten, mich loszumachen; aber er hat mir meinen Wunsch nicht erfüllt. Er ist ein gefühlloser, grausamer
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