Gesponnen aus Gefuehlen
Prolog
Die Finsternis lag um Lucy wie ein waberndes Tuch, sie wickelte sie ein und nahm ihr den Atem. Panisch suchte sie den konturlosen Raum ab, um ihren Blick daran zu verankern. Ihr Herz raste, als sich in der Schwärze, die sie umgab, etwas zu formieren begann. Kälte durchdrang die dünne Decke, in die sie eingewickelt war und stach in ihre Haut. Weißer Nebel stieg in feinen Wölkchen zwischen ihren Lippen empor.
Nebelhafte Gestalten schritten auf sie zu. Sie traten an das Bett und umzingelten sie. Lucy wollte schreien, doch nicht das leiseste Geräusch verließ ihre Kehle. Sie kamen näher. Trotz ihrer Panik registrierte sie, dass die durchscheinenden Wesen, was immer sie waren, aus Buchseiten bestanden. Es mussten Hunderte beschriebener Seiten sein, die in unterschiedlichster Größe und Beschaffenheit sanft vor sich hinblätterten. Das vertraute Papier strafte den grauenhaften Anblick Lügen. Manche der Seiten waren eingerissen, vergilbt oder verbrannt. Manche wirkten, wie frisch gedruckt. Selbst die Gesichter der Wesen bestanden aus winzigen Blättern. Deutlich sah Lucy nachtschwarze Augen und offene Mundhöhlen darin. Verschlissene papierene Mäntel hüllten die Wesen ein. Das Blättern der Seiten darunter verursachte keinerlei Geräusch. Stille umgab die Gestalten, vollständige Stille.
Das Grauen, das Lucy bei dem Anblick der Wesen durchfloss, war nicht in Worte zu fassen. Was immer diese Kreaturen waren, sie meinten es nicht gut mit ihr, das spürte sie bis in die letzte Faser ihres Körpers.
»Das ist nicht wirklich«, murmelte sie und der Klang ihrer Stimme schien eigenartig unvertraut. Der Drang aufzuspringen wurde übermächtig. Doch eine unbekannte Kraft nagelte sie auf dem Bett fest. Die Furcht machte sie bewegungslos. Aus schmalen Schlitzen musterte sie die gelbgrauen Gestalten. Skelettartige Finger fuhren durch die Luft und griffen nach ihr. Dann hörte sie Stimmen.
»Du wirst uns nicht entkommen. Wir werden dich bestrafen«, flüsterte eins der Ungeheuer in ihr Ohr.
Beim Lesen lernen wir vor allem zu verstehen
wer wir sind und wie wir sind.
Mario Vargas Llosa
1. Kapitel
Mit einem Schrei fuhr Lucy hoch und sah sich angsterfüllt um. Sie war allein in einem Zimmer, das durch gleißendes Licht erhellt wurde. Kaltes Licht, welches den bevorstehenden Winter ankündigte. Schmerz schoss durch sie hindurch, als sie versuchte, sich zu bewegen.
Ein Traum, es war nur ein Traum, dachte sie erleichtert und sah sich um. Weiße Wände und der Geruch von Desinfektionsmitteln umfingen sie. Das musste ein Krankenzimmer sein. Wie war sie hierher gekommen? Sie betrachtete ihre bandagierten Hände und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. In ihrem Kopf war nur Watte.
Vor der Tür erklang ein Geräusch und die Klinke wurde heruntergedrückt. Sie erblickte Colins Rücken, mit dem er die Tür aufstieß. Als er sich zu ihr umwandte, sah sie, dass er ein Tablett in den Händen balancierte.
»Sorry, Prinzessin. Ich dachte, du schläfst länger. Es tut mir leid, dass ich nicht da war, als du aufgewacht bist. Ich wollte etwas zu trinken für uns holen.«
Er ließ sich auf dem Stuhl neben Lucy nieder und stellte das Tablett auf den Nachtschrank neben dem Bett.
Lucy roch den verlockenden Duft frisch gebrühten Kaffees. Sie schluckte und spürte einen scharfen Schmerz in ihrem Hals. Colin reichte ihr das Glas Wasser, das er geholt hatte. Vorsichtig trank sie. Die Kühle tat ihrer geschundenen Kehle gut.
Sie räusperte sich. »Was genau ist passiert, Colin?«, fragte sie.
»Woran erinnerst du dich?«, stellte er eine Gegenfrage.
»Madame Moulin – sie wollte mich abholen«, sagte Lucy. »Aber ich hatte das Medaillon im Archiv vergessen. Ich musste zurück und …« Lucy stockte. »Die U-Bahn …« Sie konnte nicht weitersprechen.
Colin nahm ihre Hand in seine und wartete geduldig, bis tröpfchenweise die Erinnerungen zurückkamen.
»Sie war plötzlich nicht mehr da«, sagte Lucy verwundert. »Ich habe es nicht bemerkt. Erst als die Frau neben mir anfing zu schreien, sah ich ihren Schal am Boden liegen.«
Lucy schwieg und forschte in Colins Gesicht. So gern hätte sie einen Funken Hoffnung gesehen.
Ernst sah er sie an. »Sie war sofort tot.« Sein Daumen strich unentwegt über ihren verbundenen Handrücken. »Sie hat nichts gespürt.«
Wie konnte er das wissen, fragte Lucy sich.
»Sind die Bücher in Sicherheit? Sie dürfen Nathan nicht in die Bibliothek lassen«, platzte es aus ihr
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