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Saemtliche Werke von Karl May - Band 01

Saemtliche Werke von Karl May - Band 01

Titel: Saemtliche Werke von Karl May - Band 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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jedem roten Krieger ebensoviel wert wie sein Leben.
    Aehnlich ist es mit der Medizin, deren mühevolle Erwerbung überhaupt sehr häufig mit der Namengebung zusammenhängt. Das Wort Medizin hat dabei nicht etwa die Bedeutung, welche die Weißen ihm beilegen. Als die ersten Weißen zu den Indianern kamen, waren die Heilmittel der ersteren den letzteren vollständig unbekannt; die Wirkung derselben war den Roten unerklärlich, sie hielten sie für Zauberei, für etwas vom guten oder vom bösen Geist Ausgehendes, und gewöhnten sich in der Folge, alles, was ihnen unbegreiflich oder heilig war, alles, was sie mit dem göttlichen Einflusse in Verbindung brachten, Medizin zu nennen.
    Die Zeiten sind jetzt ganz andre geworden. Die Horden der wilden Büffel und Mustangs sind verschwunden und mit ihnen die sehnigen, kräftigen und kühnen Gestalten der roten Krieger und weißen Westmänner. Leute wie Old Firehand, Old Surehand, Sam Hawkens und viele andre, deren Ruhm in aller Munde lebte, sind fast zur Sage geworden, und wenn man erfährt, daß Old Shatterhand noch zu den Lebenden gehört, so fühlt man, falls man ihn nicht selbst gesehen hat, sich geneigt, auch dies für eine Mythe zu halten. Aber damals, als die Savannen und Felsenberge, die tief eingeschnittenen Cañons und Schluchten des wilden Westens noch die Schauplätze von Heldenthaten waren, welche man getrost mit den Thaten der homerschen Helden vergleichen kann, damals, als es überhaupt noch einen »wilden Westen« gab, damals war der Indianer noch nicht der gott- und menschverlassene, heruntergekommene oder vielmehr heruntergedrückte Mensch, der er jetzt geworden ist; damals kannte er hohe Pflichten, damals wußte er, was Ehre ist, damals gab es für ihn noch Ideale, noch Begriffe, die ihm viel, viel höher standen als sein irdisches Wohlergehen, und er besaß einen sichtbaren Gegenstand, an welchen er diese Begriffe und dieses Streben nach Idealen knüpfte. Dieser Gegenstand war »die Medizin«.
    Was man unter der »Medizin« eines Indianers zu verstehen hat, wird jeder Leser wissen; es kennt jeder auch die Voraussetzungen und Zeremonien, unter denen sie zu erlangen war, und die hohe Wichtigkeit, die sie für das ganze Leben hatte. Medizin konnte jeder Gegenstand sein; aber so verschieden die tausendfältigen Medizinen der Krieger auch nur eines Stammes waren, ihre Bedeutung war doch nur eine, eine einzige: sie war das Symbol alles Erhabenen, alles Heiligen; an ihrem Besitze hing der gute Name, die Ehre, die ganze Zukunft, ja, die Seligkeit des Besitzers, und wehe dem, der sie durch Unachtsamkeit verlor oder dem sie gar durch einen siegreichen Feind entrissen wurde! Er war geschändet, unter Umständen für sein ganzes Leben, wenigstens aber so lange, bis er sich eine andre, eine neue errungen oder die entrissene wieder zurückerobert hatte. Ohne Medizin war er ein im Stamm ganz unmöglich gewordener Mann; sogar seine Verwandten mieden ihn, und er mußte die Glieder seiner Familie fliehen, denn jeder, der mit ihm in Berührung kam oder gar mit ihm verkehrte, wurde dadurch ebenso ehrlos wie er selbst.
    Man kann also denken, welche Strafe, welch ein ungeheurer Verlust es für den ›schwarzen Mustang‹ war, wenn ihm seine Medizin genommen wurde! Die Schande, welche er dadurch erlitt, wurde überdies durch den Umstand nicht nur verdoppelt, sondern geradezu verhundertfacht, daß er an Stelle der Medizin die Zöpfe der Chinesen erhalten sollte. Es war dies nicht nur dasselbe, sondern noch viel, viel schlimmer, als wenn zum Beispiel bei uns einem hohen Offizier, einem General, die Epauletten heruntergerissen und an deren Stelle Hasenohren oder Hundeschwänze angeheftet würden. Dieser Offizier würde nur für die Zeit dieses Lebens blamiert sein, während der ›schwarze Mustang‹ das Recht verlor, in die ewigen Jagdgründe einzugehen. Darum wurde, als Old Shatterhand seine Verkündigung ausgesprochen hatte, keine Antwort gehört, sondern es herrschte die tiefe Stille gespanntester Erwartung, ob er wirklich ernst machen und dem Häuptling die Medizin nehmen werde. Aller Augen richteten sich auf ihn.
    Er winkte dem Hobble-Frank zu, die Zöpfe an die stehengebliebene Strähne zu befestigen, und trat, als dies geschehen war, zu dem Häuptling heran, dessen Medizinbeutel ihm an einer um den Hals geschlungenen Schnur auf der Brust hing. Er schnitt die Schnur entzwei und band sich selbst die Medizin um den Hals, indem er so laut, daß alle es hören konnten,

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