Revolution - Erzählungen
Grönland
Die Sterne sagen, dass ich dänische Hippies hassen, mich in einen französischen Fakir verknallen, Agent 007 in Marokko sein, in meiner Möse Gold schmuggeln, von Idi Amin beraubt werden und sechs verschiedene Arten von Würmern in meinen Eingeweiden herumtragen werde, von denen der siebte etwas ganz Besonderes ist.
Ich heiße Sofie Naasunnguaq Petersen und wurde 1955 in Upernavik, Nordgrönland, geboren. Meine Mutter ist Grönländerin, mein Vater Däne. Wir leben wie Dänen und reden auch Dänisch zu Hause. Wir wohnen in einem schönen Haus mit Zentralheizung, Strom und mehreren Zimmern. Die Grönländer wohnen in kleinen Holzhäusern, die für sie gebaut wurden. Sie leben in einem Zimmer und schlafen alle im selben Bett, außerdem haben sie unglaublich viele Kinder. Vielen Leuten geht es richtig schlecht. Der Alkoholkonsum ist gigantisch. Überall Not und Elend. Aber wir gehören zur Oberklasse. Mein Vater leitet sämtliche Werke der Stadt: das Elektrizitäts- und Wasserwerk, die Schiffswerft und den Steinbruch. Er hat viele Leute unter sich, aber sie kommen zur Arbeit, wie der Wind weht. Und dann gibt es noch die anderen Dänen, die dafür sorgen, dass die Gesellschaft funktioniert: der Arzt, die Lehrer, der Post- und Telegrafenmeister. Grönländer sind im Grunde Jäger – ein gestrandetes Nomadenvolk. Sie bauen ihre Kajaks und fangen Seehunde.
Meine Mutter hat viele grönländische Freundinnen, die uns besuchen kommen. Immer sitzen sie in der Küche, im Wohnzimmer sind sie nicht gern. Es ist kein besonders vornehmes Wohnzimmer, wir haben nur ein gewöhnliches Wohnzimmer, in dem wir es uns gemütlich machen und Radio hören. Aber wenn Grönländer zu Besuch sind, sitzen sie immer in der Küche und essen grönländische Gerichte. Mein Vater will nicht, dass grönländisches Essen ins Wohnzimmer kommt. Er findet, es stinkt – es riecht nach Tran. Wir Kinder bekommen von Mutter auch grönländische Speisen. Vater ist ein begeisterter Jäger und geht in seiner Freizeit fischen. Er ist ein richtiger Pfadfinder, er fängt wilde Vögel. Einmal hat er sogar einen Seehund gefangen, Mutter hat ihn auf dem Küchenboden ausgenommen. Allerdings isst Vater keinen Speck.
Ich spreche kein Grönländisch. Anfangs habe ich ein bisschen gelernt, aber ich habe aufgehört, noch bevor ich in die Schule kam. Die grönländischen Kinder verstehen genug Dänisch, um mit ihnen spielen zu können. Wenn die Erwachsenen schnell Grönländisch sprechen, verstehe ich nichts. Manchmal glaube ich, ein bisschen zu verstehen, aber wenn ich eine Frage beantworte, lachen sie, weil ich einfach so ins Blaue hinein antworte. Also versuche ich es gar nicht mehr, sondern halte mich eher an meinen Vater.
Privat haben die dänischen Vollblutfamilien keinerlei Kontakt zu den Grönländern. Dänen und Grönländer besuchen sich nie zu Hause. Aber viele dänische Familien haben eine kifak – ein junges Hausmädchen –, die den Boden schrubbt, die große Wäsche erledigt und andere grobe Arbeiten verrichtet.
1962 beginne ich in der ersten Klasse. In der Schule gibt es ein paar grönländische Lehrer, aber Unterrichtssprache ist ausschließlich Dänisch. Alle übrigen Lehrer sind Dänen. Ich gehe mit den dänischen Kindern aller Klassenstufen gemeinsam in eine dänische Klasse. Die grönländischen Kinder werden separat unterrichtet, aber sie kommen unglaublich langsam voran, weil sie kein Dänisch verstehen. Erst in der vierten Klasse haben wir gemeinsamen Unterricht. Ich bin nicht gut in der Schule. Ich träume. Ich gucke aus dem Fenster. Ich erledige nie meine Hausaufgaben, weil es zu Hause niemanden interessiert. Mein Vater ist der Ansicht, dass der Teufel die Schullehrer erschaffen hat. Und meine Mutter ist nur vier Jahre zur Schule gegangen. Was sollen ihre Töchter mit einer Ausbildung? Sie kommt doch ausgezeichnet zurecht. Wir sollen bloß froh sein, wenn uns irgendjemand heiraten will.
Ich habe eine Freundin, sie heißt Uvalu und kommt nachmittags zum Spielen zu mir. Eines Nachmittags hat mein Vater zu Hause etwas zu erledigen. Normalerweise kommt er immer ziemlich spät, erst kurz vor dem Abendessen. Er öffnet die Tür des Kinderzimmers und bemerkt Uvalu.
»Äh … hey«, sagt er. Ich sehe, wie er zusammenzuckt, und werde nervös, was geschieht jetzt?
»Guten Tag, Herr Petersen«, grüßt Uvalu.
»Hey, Papa«, sage ich.
»Spielt ruhig weiter«, erwidert er lächelnd und schließt die Tür. Ist etwas nicht in Ordnung?
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