Sag Lebewohl
Einzelbett im Wohnzimmer, das mein Vater ihr hingestellt hatte.
Unter der braunen Decke, mit der sie zugedeckt war, sah man das blaue T-Shirt, das sie trug. Es war ihr inzwischen drei Nummern zu groß. Ihr Körper war ausgezehrt. Meine sonst schon schlanke Mutter war auf 40 Kilogramm heruntergemagert. Die Wangen eingefallen. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, ihre Haut blass und zerbrechlich. Wenn ich ihr half, sich zu waschen und umzuziehen, hatte ich Angst, ihre Haut würde reißen. Von der Frau, die ich kannte, war nicht mehr viel da. Sie war nur noch ein Schatten ihres Selbst.
So wie sie dalag, konnte man denken, sie würde schlafen, aber ihr Kiefer war zusammengepresst. Dies war immer ein Zeichen für einen Schmerzschub. Obwohl ich genau wusste, dass sie Schmerzen hatte, kam aus ihrem Mund kein einziger Ton.
Das war der Zeitpunkt, an dem ich begriff, dass sie sterben würde.
Am Abend, bevor sie ins Koma fiel, waren Freunde und Verwandte da gewesen. Als hätte das Schicksal ihr einen Abschied gegönnt.
Als ich an jenem Mittwoch von der Schule nach Hause kam, waren unser Hausarzt und zwei Krankenschwestern bei uns. Er sprach im Gang mit meinem Vater. Ich stellte mich zu ihnen und er sagte uns das, was ich hoffte, nie hören zu müssen.
„Sie wird heute sterben.“
Auch wenn mir schon seit einer Weile bewusst war, dass sie sterben würde, trafen mich die Worte wie eine Explosion, die meinen Körper zerfetzte.
Ich weinte. Mein Vater weinte.
Der Zeitpunkt war gekommen, Lebewohl zu sagen.
Ich setzte mich auf den Boden neben das Bett und legte ihre zerbrechliche Hand in die meine. Mein Vater nahm auf dem Sofa Platz, direkt neben ihrem Kopf. Er strich ihr über die Wange.
Mein pochendes Herz wollte mir in der Brust zerspringen.
Sie atmete schwer und erdrückend. Nun konnte sie es nicht mehr verstecken. Sie litt. Die Tränen in meinen Augen vernebelten mir die Sicht. So saßen wir etwa fünfzehn Minuten lang, bis der Arzt ans Bett kam, ihren Puls fühlte und sagte, dass ihr Herz nicht mehr schlage.
Ich weinte und schluchzte. Dass ein solcher Schmerz existierte, ahnte ich nicht, bis ich ihn selbst spürte. Mein Vater nahm mich in den Arm. Weinend saßen wir neben meiner toten Mutter, in einem Albtraum, der nicht enden wollte.
Eine der Krankenschwestern fuhr in die Schule, um meinen kleinen Bruder abzuholen. Zuhause nahmen wir ihn in den Arm, ohne etwas zueinander zu sagen.
Einige Minuten danach klingelte es an der Tür. Es war der Bruder meines Vaters mit seiner Frau. Sie hatten es am Vorabend nicht geschafft zu kommen, also wollten sie am Mittwoch vorbeischauen. Als ich die Tür öffnete und sie mich tränenüberströmt sahen, waren keine Worte nötig, um zu sagen, was geschehen war. Wir umarmten uns.
Sie gingen in die Wohnung und ich rannte hoch zu meiner besten Freundin, die gleich über uns wohnte. Ich versuchte, mich zusammenzureißen, aber es ging einfach nicht. Gebrochen brachte ich heraus, dass meine Mutter gestorben sei. Tröstend wollten sie und eine andere Freundin mich umarmen, doch ich ließ es nicht zu, sondern ging wieder hinunter.
In der Zwischenzeit hatten die Krankenschwestern ihr ein weißes Gewand angezogen. In der Hand hielt sie Blumen.
Es war beängstigend, sie so zu sehen. Mager, bleich, leer. Meine Mutter war fort. Tod.
Am 15 August 2001, um 11:20 Uhr, ist sie von uns gegangen. Für uns ein unendlicher Schmerz, für sie die Erlösung.
Vier Monate lagen zwischen Diagnose und Tod. Sechzehn Wochen. Wie sollte man sich in vier Monaten darauf vorbereiten, jemanden zu verlieren, den man so liebte?
Die Menschen um mich herum sagten mir immer wieder, sie wüssten, wie ich mich fühlte. Aber wie sollten sie das? Keiner von ihnen, der nicht dasselbe durchlebt hatte, konnte wissen, wie ich mich fühlte, als wir sie zu Grabe trugen. Als die Urne mit ihrer Asche in die Erde gelassen wurde, während die Leute in ihren schwarzen Trauersachen um mich herum standen.
Das schlimmste Gefängnis ist das, in welches man sich selbst einsperrt. Die Trauer übernimmt einen. Schleichend verlor ich mich darin. Ich hoffte, die Tür würde aufgehen und alles wäre nur ein Traum gewesen.
Ich war so wütend. Wütend auf die Welt, wütend auf Gott, wütend auf mich selbst. Es ist schwer, sich einzugestehen, dass man loslassen muss, um weiterleben zu können. Irgendwann verging die Wut in mir und ich ließ meine Mutter gehen.
Dass die Zeit alle Wunden heilt, trifft nicht zu. Auch wenn man
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