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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
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ganz das Ansehen von Flügeln bekamen. Dädalos hatte einen Knaben namens Ikaros. Dieser stand neben ihm und mischte seine kindischen Hände neugierig unter die künstliche Arbeit des Vaters; bald griff er nach dem Gefieder, dessen Flaum von dem Luftzuge bewegt wurde, bald knetete er das gelbe Wachs, dessen der Künstler sich bediente, mit Daumen und Zeigefinger. Der Vater ließ es sorglos geschehen und lächelte zu den unbeholfenen Bemühungen seines Kindes. Nachdem er die letzte Hand an seine Arbeit gelegt hatte, paßte sich Dädalos selbst die Flügel an den Leib, setzte sich mit ihnen ins Gleichgewicht und schwebte leicht wie ein Vogel empor in die Lüfte. Dann, nachdem er sich wieder zu Boden gesenkt, belehrte er auch seinen jungen Sohn Ikaros, für den ein kleineres Flügelpaar gefertigt und bereit lag. »Flieg immer, lieber Sohn«, sprach er, »auf der Mittelstraße, damit nicht, wenn du den Flug zu sehr nach unten senktest, die Fittiche ans Meerwasser streifen und von Feuchtigkeit beschwert dich in die Tiefe der Wogen hinabziehen, oder wenn du dich zu hoch in die Luftregion verstiegest, dein Gefieder den Sonnenstrahlen zu nahe komme und plötzlich Feuer fange. Zwischen Wasser und Sonne fliege dahin, immer nur meinem Pfade durch die Luft folgend.« Unter solchen Ermahnungen knüpfte Dädalos auch dem Sohne das Flügelpaar an die Schultern, doch zitterte die Hand des Greisen, während er es tat, und eine bange Träne tropfte ihm auf die Hand. Dann umarmte er den Knaben und gab ihm einen Kuß, der auch sein letzter sein sollte.
    Jetzt erhoben sich beide mit ihren Flügeln. Der Vater flog voraus, sorgenvoll wie ein Vogel, der eine zarte Brut zum erstenmal aus dem Neste in die Luft fährt. Doch schwang er besonnen und kunstvoll das Gefieder, damit der Sohn es ihm nachtun lernte, und blickte von Zeit zu Zeit rückwärts, um zu sehen, wie es diesem gelänge. Anfangs ging es ganz gut. Bald war ihnen die Insel Samos zur Linken, bald Delos und Paros, die Eilande, vorüberflogen. Noch mehrere Küsten sahen sie schwinden, als der Knabe Ikaros, durch den 27

Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
    glücklichen Flug zuversichtlich gemacht, seinen väterlichen Führer verließ und in verwegenem Übermute mit seinem Flügelpaar einer höheren Zone zusteuerte. Aber die gedrohte Strafe blieb nicht aus. Die Nachbarschaft der Sonne erweichte mit allzukräftigen Strahlen das Wachs, das die Fittiche zusammenhielt, und ehe es Ikaros nur bemerkte, waren die Flügel aufgelöst und zu beiden Seiten den Schultern entsunken.
    Noch ruderte der unglückliche Jüngling und schwang seine nackten Arme; aber er bekam keine Luft zu fassen, und plötzlich stürzte er in die Tiefe. Er hatte den Namen seines Vaters als Hilferuf auf den Lippen; doch ehe er ihn aussprechen konnte, hatte ihn die blaue Meeresflut verschlungen. Das alles war so schnell geschehen, daß Dädalos, hinter sich nach seinem Sohne, wie er von Zeit zu Zeit zu tun gewohnt war, blikkend, nichts mehr von ihm gewahr wurde. »Ikaros, Ikaros!« rief er trostlos durch den leeren Luftraum:
    »Wo, in welchem Bezirke der Luft soll ich dich suchen?« Endlich sandte er die ängstlich forschenden Blicke nach der Tiefe. Da sah er im Wasser die Federn schwimmen. Nun senkte er seinen Flug und ging, die Flügel abgelegt, ohne Trost am Ufer hin und her, wo bald die Meereswellen den Leichnam seines unglücklichen Kindes ans Gestade spülten. Jetzt war der ermordete Talos gerächt. Der verzweifelnde Vater sorgte für das Begräbnis des Sohnes. Es war eine Insel, wo er sich niedergelassen und wo der Leichnam ans Ufer geschwemmt worden war. Zum ewigen Gedächtnis an das jammervolle Ereignis erhielt das Eiland den Namen Ikaria.
    Als Dädalos seinen Sohn begraben hatte, fuhr er von dieser Insel weiter nach der großen Insel Sizilien.
    Hier herrschte der König Kokalos. Wie einst bei Minos auf Kreta fand er bei ihm gastliche Aufnahme, und seine Kunst setzte die Einwohner in Erstaunen. Noch lange zeigte man da einen künstlichen See, den er gegraben und aus dem ein breiter Fluß sich in das benachbarte Meer ergoß; auf den steilsten Felsen, der nicht zu erstürmen war und wo kaum ein paar Bäume Platz zu haben schienen, setzte er eine feste Stadt und führte zu ihr einen so engen und künstlich gewundenen Weg empor, daß drei oder vier Männer hinreichten, die Feste zu verteidigen. Diese unbezwingliche Burg wählte dann der König Kokalos zur Aufbewahrung seiner Schätze. Das dritte Werk

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