Sagen des klassischen Altertums
des Dädalos auf der Insel Sizilien war eine tiefe Höhle. Hier fing der den Dampf unterirdischen Feuers so geschickt auf, daß der Aufenthalt in einer Grotte, die sonst feucht zu sein pflegte, so angenehm war wie in einem gelinde geheizten Zimmer und der Körper allmählich in einen wohltätigen Schweiß kam, ohne dabei von der Hitze belästigt zu werden. Auch den Aphroditentempel auf dem Vorgebirge Eryx erweiterte er und weihte der Göttin eine goldene Honigzelle, die mit der größten Kunst ausgearbeitet war und einer wirklichen Honigwabe täuschend ähnlich sah.
Nun erfuhr aber König Minos, dessen Insel der Baumeister heimlich verlassen hatte, daß Dädalos sich nach Sizilien geflüchtet habe, und faßte den Entschluß, ihn mit einem gewaltigen Kriegsheere zu verfolgen.
Er rüstete eine ansehnliche Flotte aus und fuhr damit von Kreta nach Agrigent. Hier schiffte er seine Landtruppen aus und schickte Botschaften an den König Kokalos, welche die Auslieferung des Flüchtlings verlangen sollten. Aber Kokalos war über den Einfall des fremden Tyrannen entrüstet und sann auf Mittel und Wege, ihn zu verderben. Er stellte sich an, als ginge er auf die Absichten des Kreters ganz ein, versprach ihm in allem zu willfahren, und lud ihn zu dem Ende zu einer Zusammenkunft ein. Minos kam und wurde mit großer Gastfreundschaft von Kokalos aufgenommen. Ein warmes Bad sollte ihn von der Ermüdung des Weges heilen. Als er aber in der Wanne saß, ließ Kokalos diese so lange heizen, bis Minos in dem siedenden Wasser erstickte. Die Leiche überließ der König von Sizilien den Kretern, die mit ihm gekommen waren, unter dem Vorgeben, der König sei im Bade ausgeglitten und in das heiße Wasser gefallen. Hierauf wurde Minos von seinen Kriegern mit großer Pracht bei Agrigent bestattet und über seinem Grabmal ein offener Aphroditentempel erbaut. Dädalos blieb bei dem Könige Kokalos in ununterbrochener Gunst; er zog viele und berühmte Künstler und wurde der Gründer seiner Kunst auf Sizilien. Glücklich aber war er seit dem Sturze seines Sohnes Ikaros nicht mehr, und während er dem Lande, das ihm Zuflucht gewährt hatte, ein heiteres und lachendes Ansehen durch die Werke seiner Hand verlieh, durchlebte er selbst ein kummervolles und trübsinniges Alter. Er starb auf der Insel Sizilien und wurde dort begraben.
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Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
Zweites Buch
Die Argonautensage
IASON UND PELIAS
Von Aison, dem Sohne des Kretheus, stammte Iason ab. Sein Großvater hatte in einer Bucht des Landes Thessalien die Stadt und das Königreich Iolkos gegründet und dasselbe seinem Sohne Aison hinterlassen.
Aber der jüngere Sohn, Pelias, bemächtigte sich des Thrones; Aison starb, und Iason, sein Kind, war zu Chiron dem Zentauren, dem Erzieher vieler großer Helden, geflüchtet worden, wo er in guter Heldenzucht aufwuchs. Als Pelias schon alt war, wurde er durch einen dunkeln Orakelspruch geängstigt, welcher ihn warnte, er solle sich vor dem Einschuhigen hüten. Pelias grübelte vergeblich über dem Sinne dieses Worts, als Iason, der jetzt zwanzig Jahre den Unterricht und die Erziehung des Chiron genossen hatte, sich heimlich aufmachte, nach Iolkos in seine Heimat zu wandern und das Thronrecht seines Geschlechtes gegen Pelias zu behaupten. Nach Art der alten Helden war er mit zwei Speeren, dem einen zum Werfen, dem andern zum Stoßen, ausgerüstet; er trug ein Reisekleid und darüber die Haut von einem Panther, den er erwürgt hatte; sein unbeschorenes Haar hing lang über die Schultern herab. Unterwegs kam er an einen breiten Fluß, an dem er eine alte Frau stehen sah, die ihn flehentlich bat, ihr über den Strom zu helfen. Es war die Göttermutter Hera, die Feindin des Königes Pelias. Iason erkannte sie in ihrer Verwandlung nicht, er nahm sie mitleidig auf die Arme und watete mit ihr durch den Fluß. Auf diesem Wege blieb ihm der eine Schuh im Schlamme stecken. Dennoch wanderte er weiter und kam zu Iolkos an, als sein Oheim Pelias gerade mitten unter dem Volke auf dem Marktplatze der Stadt dem Meeresgotte Poseidon ein feierliches Opfer brachte.
Alles Volk verwunderte sich über seine Schönheit und seinen majestätischen Wuchs. Sie meinten, Apollo oder Ares sei plötzlich in ihre Mitte getreten. Jetzt fielen auch die Blicke des opfernden Königes auf den Fremdling, und mit Entsetzen bemerkte er, daß nur der eine Fuß desselben beschuhet sei. Als die heilige Handlung vorüber war, trat er dem Ankömmling
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