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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
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und rief. »Sei mir willkommen, liebe Mutter, denn so muß ich dich nennen, obgleich du mich nicht geboren hast! Hörst du, welchen Nachstellungen ich entgangen bin? Kaum habe ich einen Vater gefunden, so sinnt auch schon die böse Stiefmutter auf meinen Tod! Nun sage mir, Mutter, was soll ich tun; denn deiner Mahnung will ich folgen!«
    Die Priesterin erhob warnend ihren Finger und sprach: »Ion, geh mit unbefleckter Hand und unter günstigen Vogelzeichen nach Athen!« Ion besann sich eine Weile, eh er antwortete. »Ist denn der nicht fleckenlos«, sprach er endlich, »der seine Feinde tötet?« »Tue du nicht also, bist du mich gehört hast«, sagte die ehrwürdige Frau. »Siehst du dies alte Körbchen, das ich, mit frischen Kränzen umwunden, in meinen Armen trage? In diesem bist du einst ausgesetzt worden, aus ihm habe ich dich hervorgezogen.« Ion staunte.
    »Davon Mutter«, sprach er, »hast du mir nie etwas gesagt. Warum hast du es so lange vor mir verborgen?«
    »Weil der Gott«, antwortete die Priesterin, »dich bis hierher zu seinem Priester haben wollte. Jetzt, wo er dir einen Vater gegeben hat, entläßt er dich nach Athen.« »Was soll mir aber dieses Kistchen helfen?« fragte Ion weiter. »Es enthält die Windeln, in welchen du ausgesetzt worden bist, lieber Sohn!« antwortete die Priesterin. »Meine Windeln?« sprach Ion heftig. »Nun, das ist ja eine Spur, die mich auf meine rechte Mutter führen kann. O erwünschte Entdeckung!« Die Priesterin hielt ihm nun das offene Kistchen hin, und Ion griff gierig hinein und zog die reinlich zusammengewickelte Leinwand heraus. Während er seine betränten Augen auf die kostbaren Überbleibsel heftete, hatte sich Krëusas Angst allmählich verloren und ein Blick auf das Kistchen ihr die ganze Wahrheit entdeckt. Mit einem Sprunge verließ sie den Altar, und mit dem Freudenrufe: »Sohn!« hielt sie den staunenden Ion umschlungen. Diesem schlich sich aufs neue Mißtrauen ins Herz, er fürchtete die Umarmungen der Fremden als eine Hinterlist und wollte sich unwillig losmachen.
    Aber Krëusa selbst raffte sich zusammen, trat einige Schritte zurück und sprach: »Diese Leinwand soll für mich zeugen, Kind! Wickle sie getrost auseinander; du wirst die Zeichen finden, die ich dir angebe. Die Stickerei, die sie schmückt, ist das Werk meiner mädchenhaften Nadel. In der Mitte des Gewebes muß sich das Gorgonenhaupt finden, umringt von Schlangen, wie auf dem Ägisschilde!« Ungläubig entfaltete Ion die Windeln, aber mit einem plötzlichen Freudenschrei rief er aus: »O großer Zeus, hier ist die Gorgone, hier sind die Schlangen!« »Noch nicht genug«, sprach Krëusa, »es müssen in dem Kistchen auch kleine goldne Drachen sein, zur Erinnerung an die Drachen in der Kiste des Erichthonios; ein Halsschmuck für das neugeborene Knäbchen.« Ion durchforschte den Korb weiter, und mit wonnigem Lächeln zog er bald auch die Drachenbilder hervor. »Das letzte Zeichen«, rief Krëusa, »muß ein Kranz aus den unverwelklichen Oliven sein, die vom erstgepflanzten Ölbaume Athenes stammen und den ich meinem neugeborenen Knaben aufgesetzt.« Ion durchsuchte den Grund des Kistchens, und seine Hand brachte einen schönen grünen Olivenkranz hervor. »Mutter, Mutter!« rief er mit einer von schluchzenden Tränen unterbrochenen Stimme, fiel Krëusen um den Hals und bedeckte ihre Wangen mit Küssen. Endlich riß er sich von ihrem Halse los und verlangte nach seinem Vater Xuthos. Da entdeckte ihm Krëusa das Geheimnis seiner Geburt und wie er des Gottes Sohn sei, dem er so lang und getreu im Tempel gedient habe. Auch die früheren Verwicklungen und die letzte Verirrung Krëusens wurden ihm jetzt klar, und er fand selbst den verzweifelten Anschlag seiner Mutter auf des unerkannten Sohnes Leben verzeihlich. Xuthos nahm den Ion, obgleich nur als Stiefsohn, doch auch so als ein teures Göttergeschenk in seine Arme, und alle drei erschienen wieder im Tempel, dem Gotte zu danken. Die Priesterin aber weissagte von ihrem Dreifuß herab, daß Ion der Vater eines großen Stammes werden sollte, Ionier nach seinem Namen genannt; auch dem Xuthos weissagte sie Nachkommenschaft von Krëusen, einen Sohn, der Doros heißen und der weltberühmten Dorier Vater werden sollte. Mit so freudigen Erfüllungen und Hoffnungen brach das Fürstenpaar von Athen mit dem glücklich gefundenen Sohn nach der Heimat auf, und alle Einwohner Delphis gaben ihm das Geleite.
    DÄDALOS UND IKAROS
    Auch Dädalos aus Athen war ein

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