Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
Vom Netzwerk:
zum Verderben der Freier in die Stadt eingehen. Ich selbst werde euch auch nicht lange fehlen; denn ich brenne vor Begierde, diese Frevler zu bekämpfen!« So sprach die Göttin und berührte den Bettler mit ihrem goldenen Stab. Da war ein Wunder zu sehen. Mantel und Leibrock wie früher umgab des Helden sich verjüngende Gestalt wieder; sein Wuchs strebte empor, sein Antlitz bräunte sich, die Wangen wurden voller, die Haare dicht, und um das Kinn sproßte wieder das gekräuselte schwarze Barthaar. Nachdem sie solches vollbracht hatte, verschwand Athene.
    Als Odysseus wieder in die Hütte eintrat, sah ihn der Sohn mit Staunen an, glaubte einen Gott zu 313
    Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
    erblikken, und mit abgewandten Augen sprach er: »Fremdling, du siehst ganz anders aus als vorhin: andre Kleider hast du an, deine ganze Gestalt ist verwandelt; du bist fürwahr einer der Himmlischen! Laß dir opfern und schone unser!« »Nein, ich bin kein Gott«, rief Odysseus; »erkenne mich doch, Kind, ich bin ja dein Vater, um den du dich soviel gegrämt hast!« Die so lange gewaltsam gehemmten Tränen stürzten ihm bei diesen Worten aus den Augen; er eilte auf den Sohn zu und umfing ihn unter Küssen. Aber Telemach konnte es noch immer nicht glauben. »Nein, nein«, rief er, »du bist nicht mein Vater Odysseus, ein böser Dämon täuscht mich, damit ich nur noch tiefer ins Leid versinke. Wie vermochte sich auch ein Mensch aus eigener Kraft so zu verwandeln!« »Staune doch den heimkehrenden Vater nicht so grenzenlos an, lieber Sohn!« erwiderte Odysseus; »ich bin es, der nach zwanzig Jahren in die Heimat zurückkommt, und kein anderer. Das Wunder ist ein Werk der Göttin Athene; sie hat mich so umgeschaffen, daß ich bald als ein Bettler einhergehe, bald als ein Jüngling; denn den Göttern wird es leicht, einen Sterblichen bald zu erniedrigen, bald zu erhöhen.«
    So sprach Odysseus und setzte sich. Jetzt erst wagte es der Jüngling, unter heißen Tränen seinen Vater zu umschlingen; in beiden regte sich der lange Gram, sie fingen an, laut zu weinen, und ihre Klage tönte so herzzerreißend wie der Ruf der Vögel, denen man ihre Jungen geraubt hat, ehe sie flügge geworden sind.
    Als sie sich genug ausgeweint, fragte endlich Telemach den Vater, auf welchem Wege er in die Heimat gekommen sei, und nachdem ihm Bescheid geworden, fuhr Odysseus fort: »Und jetzt bin ich da, mein Sohn, auf Athenes Befehl, daß wir uns über den Mord unserer Feinde beraten. Nenne mir die Freier der Reihe nach, daß ich wisse, wieviel ihrer sind und ob wir beide allein zu ihrer Bekämpfung hinreichen oder ob wir uns nach Bundesgenossen umsehen sollen.« »Ich habe zwar immer von deinem Ruhme gehört, mein Vater«, erwiderte Telemach, »und daß dein Arm so stark sei wie dein Rat verständig. Das aber war ein stolzes Wort, und nimmermehr vermöchten wir zwei etwas gegen so viele. Es sind ihrer nicht nur zehn oder zwanzig, es sind viel, viel mehr: aus Dulichion allein zweiundfünfzig der mutigsten Jünglinge, mit sechs Dienern; aus Same vierundzwanzig, aus Zakynth zwanzig, aus Ithaka selbst zwölf. Mit ihnen sind der Herold Medon, ein Sänger und zwei Köche. Darum, wenn es möglich ist, laß uns auf weitere Verteidiger sinnen.« »Bedenke« , sprach Odysseus darauf, »daß Athene und Zeus unsere Bundesgenossen sind, die, wenn sich einmal in meinem Palaste der Krieg erhoben hat, uns nicht lange werden auf ihre Hilfe warten lassen. Du selbst nun, lieber Sohn, geh mit dem nächsten Morgen in die Stadt zurück und setze dich unter die Freier, als wäre nichts geschehen. Mich wird der Sauhirt, nachdem ich wieder zum greisen Bettler umgestaltet worden bin, dir nachführen. Welchen Schimpf sie alsdann mir auch im Saale antun mögen, und wenn sie nach mir werfen und mich an den Füßen über die Schwelle ziehen, du mußt dein Herz bezähmen und es ertragen.
    Mit Worten magst du sie zu besänftigen suchen; aber sie werden dir nicht folgen, denn ihr Verderben ist beschlossen. Auf einen Wink von mir wirst du sodann die Rüstungen, die wir im Saale umherhängen haben, in einer der obern Kammern des Hauses verbergen. Vermissen sie die Freier und fragen darnach, so sagst du nur, du habest sie wegschaffen lassen, weil sie, vom Rauche des Kamines geschwärzt, den Glanz, mit dem sie unter Odysseus geschimmert, verloren haben. Für uns beide lässest du nur zwei Schwerter, zwei Speere und zwei stierlederne Schilde zurück, damit wir sie zum Kampf

Weitere Kostenlose Bücher